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Trotzland

Die Bundestagswahl 2025 in Sachsen: Rund die Hälfte der Wähler hat sich für die AfD entschieden. Für die einen ist das ein Ruck nach rechts, für andere eine erwartbare Konsequenz jahrelanger Enttäuschung. 


Einer der Schlüssel zur Erklärung liegt in einem psychologischen Mechanismus: Wenn Menschen das Gefühl haben, dass ihnen eine Meinung aufgezwungen wird, reagieren sie mit Trotz. Wer sich belehrt fühlt, wählt irgendwann aus Prinzip dagegen. Es ist dann nicht mehr notwendig, dass man sich mit der gewählten Partei identifiziert. Es reicht die Gewissheit: „So könnt Ihr nicht weitermachen, nicht mit mir.“


Die ostdeutsche Erfahrung — erst unter dem autoritären System DDR, dann im radikalen Umbruch der Wiedervereinigung — hat eine politische Kultur geprägt, die sich nicht mit westdeutschen Maßstäben messen lässt. Wer in einem Staat aufgewachsen ist, in dem Anpassung Pflicht war und ehrliche Meinungen nur hinter verschlossenen Türen geäußert wurden, hat eine andere Sensibilität für Bevormundung entwickelt. 


Nach der Wende wurde die Demokratie begrüßt — aber auch mit Erwartungen verknüpft. Natürlich wollte man Freiheit — und natürlich kannte man ihren Preis noch nicht. Man begrüßte die Reisefreiheit und das Recht auf freie Meinungsäußerung — aber später wurde klar, dass man auch ernst genommen werden wollte — was zu wenig geschah. 


Als man die seinerzeit „alte Welt“ wegdemonstrierte, meinte man zu wissen, was man wollte, ohne jedoch genau zu wissen, was es wirklich bedeutete. Tief greifende Veränderungen, neue Kulturtechniken, der Verlust des Vertrauten — und nachher das Gefühl, dass man doch irgendwie unterlegen war, man marginalisiert und später auch noch belehrt wurde. 


Ein Teil war begeistert und schaffte es, im Rahmen der neuen Kulturtechniken erfolgreich zu sein. Ein anderer Teil hat das zumindest versucht. Ein dritter Teil hat sich gleich abgewandt. 


Fakt ist, dass sich irgendwann in Teilen der ostdeutschen Bevölkerung eine Entfremdung einstellte, die spätestens 2015 in einem spezifisch ostdeutschen Gefühl gipfelte: Als die Flüchtlinge auf jenem Bahnhof in Budapest riefen: „Deutschland, Deutschland“, und als die damalige Kanzlerin sagte: „Wir schaffen das!“, da meinten viele Ostdeutsche: „Warum sollen wir das schaffen? Was wollen wir eigentlich schaffen? Wir haben doch genug Probleme hier! Kümmert Euch doch erstmal um uns!“


In den vergangenen Jahren hat sich in Ostdeutschland das Gefühl verfestigt, dass man zwar demokratisch wählen kann, aber nicht demokratisch gehört wird.


Ein besonders aufschlussreicher Widerspruch bei dieser Wahl: Migration war das Hauptthema — aber warum ausgerechnet in ostdeutschen Landlagen umso mehr, obwohl es dort vergleichsweise wenige Migranten gibt? 


Dieser augenscheinliche Widerspruch zeigt, dass es hier nicht um persönliche Erfahrungen geht, sondern um etwas Grundsätzlicheres — die Wahrnehmung, dass gesellschaftliche Veränderungen nicht mehr verhandelbar sind, sondern dass Veränderungen einer gewissen Normvorstellung entsprechen sollten — oder nicht stattfinden. 


Wer andere Veränderungen wollte, wurde als irgendwie „rechts“, „verschwurbelt“ und so weiter dargestellt. 


Viele Ostdeutsche hatten spätestens mit der „Ampel“ zudem den Eindruck, dass Identitätspolitik über wirtschaftliche Notwendigkeiten gestellt wurde. Die Angst vor sozialem Abstieg verstärkt dieses Gefühl noch: „Solange der Kühlschrank voll ist, hält man Ungewissheit aus. Wenn das Portemonnaie dünner wird, wird jede Frage existenziell.“ Insbesondere Arbeiter wählten nicht mehr SPD, sondern AfD.


Spätestens mit dem, was man gemeinhin das „Heizgesetz“ genannt hat, kippte die Meinungslandschaft vollends. Der Trotz wurde immer stärker — und zwar nicht mehr nur, weil man nicht belehrt werden wollte, sondern weil die Lage mittlerweile das Portemonnaie vieler Menschen erreicht hatte — und diese auf die „Flausen aus Berlin“ nur umso fassungsloser reagierten.


Die entscheidende Frage lautet: Ist das einstweilen nur „Protestwahlverhalten“, oder wird daraus eine langfristige Neuausrichtung der politischen Landschaft? 


Ein zentrales Problem ist hierbei die sogenannte „Brandmauer“ gegen die AfD. Sie soll verhindern, dass die Partei politisch an Einfluss gewinnt. Doch was, wenn die Brandmauer das Gegenteil bewirkt? Die ostdeutschen Wahlergebnisse legen zumindest eine entsprechende Vermutung nahe.


Solange die AfD von direkter Verantwortung ferngehalten wird, muss sie nicht beweisen, dass sie regierungsfähig ist. Sie kann Versprechen machen, ohne sie einzulösen. Sie kann polarisieren, ohne Konsequenzen zu tragen. Die Strategie, sie auszuschließen, wird, so steht zu vermuten, am Ende genau das sein, was sie stärker macht.


Eine interessante Frage: Was wäre die Alternative für all jene, die weder die Ampel, noch eine weitere GroKo und auch nicht die AfD wollen? Wo ist die politische Kraft, die die berechtigten Sorgen der Wähler ernst nimmt, ohne sich in ideologischen Grabenkämpfen zu verlieren — oder nach gewissen Wahlversprechen einfach so weiterzumachen, wie wir es schon kennen? 


Zuletzt fiel die Wahl auf die CDU. Das wichtigste Thema vor der Wahl: Migration. Das wichtigste Thema nach der Wahl: Neue Schulden. Von Migration ist kaum mehr etwas zu hören. Der Junior-Partner in der Koalition jagt den eigentlichen Wahlgewinner vor sich her. Was jetzt die SPD mit der CDU veranstaltet, haben vorher die Grünen mit der SPD gemacht. Am Spielfeldrand steht die AfD — und wird immer stärker. 


Was wäre, wenn Deutschland eine neue, unverbrauchte Kraft in der Mitte hätte — eine, die weder eine Fortsetzung der Merkel’schen CDU noch eine rückwärtsgewandte Reaktion auf die Gegenwart wäre? Eine, die versteht, dass die Themen Migration, wirtschaftliche Stabilität und kulturelle Identität wichtig sind und substantiell angegangen werden müssen. Eine, die nicht entweder von „Willkommenskultur“ oder von „Grenzen dicht“ redet, sondern pragmatische Antworten findet.


Was müsste eine solche „Neue Mitte“ politisch vertreten? Wirtschaftlich liberal, gesellschaftlich konservativ? Ein europäischer Kurs oder nationale Fokussierung? Wer könnte eine solche Bewegung anführen — und wäre sie überhaupt durchsetzungsfähig?


Eines ist sicher: Was in Ostdeutschland passiert, ist kein vorübergehendes Phänomen. Es ist eher ein Zeichen, das verstanden werden muss — oder übersehen wird, auf eigenes Risiko. 


Die Frage ist nicht so sehr, ob die AfD in der Wählergunst weiter wächst. Das tut sie angesichts der gegenwärtigen GroKo-Anbahnung ohnehin. Die Frage ist, ob die handelnden Personen irgendwann einsehen, dass sie nicht so sehr wächst, weil immer mehr Deutsche plötzlich den Rechtsradikalismus für sich entdecken, sondern dass sie wächst, weil andere Parteien die eigentlichen (= den Bürgerinnen und Bürgern wichtigen) Themen weiterhin ignorieren und das Wahlvolk weiterhin belehren.

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