Unter der Oberfläche unseres modernen Lebens vibriert etwas — wie das Echo eines alten Zitterns. Ein dumpfes Geräusch aus den Seelen derer, die nicht mehr wissen, wie man Halt findet.
Wir leben in einem Zeitalter des Oszillierens: Emotionale Ausschläge sind zum Grundzustand geworden. Stabilität wird zur Anomalie. Wir haben uns befreit — zuerst von Ketten, dann von Halt. Wir brechen heuer nicht erst durch echte Gewalt zusammen, sondern schon wegen zu harschen Tonfalls.
Spätestens nach dem zweiten Weltkrieg entdeckten die Menschen in westlichen Gesellschaften die Therapie. Was die Psyche des Menschen heilen sollte, hatte aber auch eine Kehrseite, die zu einer Entwicklung führte, die uns mit den Jahren entwurzelte. Das Individuum wurde heilig. Selbstausdruck ersetzte Disziplin. Pflicht wurde zunehmend als Unterdrückung „gelesen“, Gemeinschaft oder Familie als Zwang.
Die Therapie-Kultur begann mit Mitgefühl und endete in übersteigerter individueller Selbstrotation. Das Ich als freie Wahl, als oszillierendes, schillerndes „Projekt“. Das Ich als Wunde — man ist, was man erlitten hat. Die Welt hat sich dir zu beugen — deinen Gefühlen, deinen Triggern, deinem dir vielleicht unerträglichen Ich, gegen das du kämpfst, das du nicht wahrhaben willst, gegen das du dein „Ersatz-Ich“ konstruierst.
Die großen Narrative, das Gemeinsame, die kollektive Identität verschwanden langsam. Übrig blieb das Echo der eigenen Stimme. Überall nur ich: in jedem Raum ein Spiegel, für jedes Bedürfnis ein Feed. Keiner kommt, um dir zu sagen: „Lass es einfach, werde erwachsen.“
Der neue Narzissmus protzt nicht. Also, er tut es schon, aber er tut viel dafür, dass man es nicht merkt: Er protzt, zum Beispiel, mit Verletzlichkeit, mit Bescheidenheit, mit Zugehörigkeit zu Minderheiten. Der neue Narzissmus kommt nicht hart daher, sondern zerbrechlich. Der neue Narzissmus — zittert, verlangt keine Bewunderung, wohl aber: Schonung. Und zwar nicht: Schonung vor allzu fester Autorität — sondern vor Widerspruch, vor Uneindeutigkeit, vor der Möglichkeit, dass jemand dich nicht für wunderbar halten könnte.
Das Ego war einst eine Festung. Jetzt ist es eine Skulptur aus Glas: ebenso funkelnd wie hochsensibel. Jeder Ton, jeder Blick — eine potenzielle Bedrohung. Wir nennen das „Verletzlichkeit“. Aber in Wahrheit bedeutet es die Unfähigkeit, sich der Welt zu stellen, wie sie ist.
Universitäten und Hochschulen sind zu Pflegeheimen geworden: für Egos, für Gefühle, für fragile Identitäten. „Safe spaces“ waren Schutzräume, um die eigene Meinung möglichst frei äußern zu können. Heute sind „safe spaces“ etwas anderes — ein erwartbarer Standard: Alles muss „klinisch“ sauber und sicher sein, jede E-Mail, jede Sitzung, jede Prüfung — und dieser Standard ist jederzeit einklagbar. Meetings beginnen mit Affirmationen. Skripte sind sterilisiert. Jede Kritik kann potenziell als Mikroaggression denunziert werden.
So werden Organisationen nicht klüger, sondern in gewisser Weise „dümmer“, weil eine „prophylaktische Zurückhaltung“ Schule macht: Bevor ich mich streite und am Ende noch einen Rechtsanwalt am Hals habe, sage ich lieber nichts. Das Problem dabei ist, dass viele Selbstverständlichkeiten (Bewertungsmaßstäbe, Anwesenheitspflichten usw.) unter dem Gewicht der Hinterfragung zusammenbrechen und verschwinden. Diejenigen, die kein inneres Rückgrat mehr haben, sorgen mit ihren Hinterfragungen dafür, dass es kaum mehr verbindliche Orientierungen gibt — die Maximierung der eigenen Komfortzone aber einklagbar bleibt.
Auch in Beziehungen wirkt dieser Rhythmus aus Sehnsucht nach Bestätigung auf der einen Seite und der Hinterfragung durch das Bedürfnis der Selbstbehauptung auf der anderen Seite:
Zunächst:
„Stabilisiere mich.“
„Halte mich.“
„Sag mir, dass ich genüge.“
Doch schon im nächsten Atemzug:
„Lass mich sein, wie ich bin.“
„Ich brauche Freiheit. Ich bin mir selbst genug.“
„Du erstickst mich.“
Das ist eine für Beziehungen tödliche Doppelbindung. Bindungssehnsucht trifft auf narzisstischen, durch Selbstrotation befeuerten Autonomiewahn. Intimität als Instabilität: Zwei in sich selbst kaum gebundene Menschen können sich nicht gegenseitig halten, sondern sie driften, sie kollidieren. Sie nennen es Liebe, aber es geht endlos auf und ab, die Ausschläge sind beeindruckend, überlagern sich, irgendwann reicht der Bildschirm eines Oszillographen nicht mehr aus für die Aufs und Abs der Dynamik aus gegenseitiger Bewunderung und gegenseitiger Hinterfragung.
Womöglich ist dies eine der kraftvollsten Lügen unserer Zeit (zumindest im Umfeld von Hochschulen und Universitäten): Jede neue Regel, jede Sprachvorgabe, jede Triggerwarnung soll uns vor Hass schützen. Sie schützt uns aber nicht vor Hass (der wächst ja trotzdem), sondern vor der Einsicht, dass die eigene Sichtweise vielleicht doch nicht die „richtige“ oder gar „wahre“ sein könnte.
Hinter der allzu lauten Betonung von Vielfalt steckt keine Sehnsucht nach Vielfalt, sondern Eifer.
Zweifel an der „Wahrheit“ oder gar andere „Wahrheiten“ (was sind unsere Theorien denn anderes als bestenfalls „Annäherungen“?) kratzen. Aber dieses „Kratzen“ provoziert, passt nicht zu unserem Ideal von „gewaltfreier Kommunikation“. Wir filtern, glätten, dämpfen alles — bis nichts mehr echt ist. Nur noch Wohlfühl-Bürokratie — und Theorien, die kaum mehr etwas bedeuten — oder, etwas weniger sarkastisch: die für das Verständnis der aktuellen Vorgänge auf der Welt wenig hilfreich sind, weil sie die Welt normativ betrachten, also eher beschreiben, wie die Welt zu sein habe, als sich dem anzunähern, wie die Welt eben auch sein könnte.
Was bleibt in dieser Welt der aus Eifer geborenen Vorsicht, der hyperreflektierten Wortwahl, der prophylaktischen Zurückhaltung? Vielleicht die Einsicht, dass es keine letzte Sicherheit gibt, sondern immer auch Widerstand, Reibung, Last, Veränderung — und dass dies bitter notwendig wäre, gerade dort, wo studiert und geforscht wird.
Wir scheinen uns (einstweilen) entschieden zu haben: Für Zerbrechlichkeit und das Fliehen vor der Welt. Und jetzt treiben wir zerbrechlich und empfindlich, wie wir sind, vor uns hin — und suchen… doch wir finden nichts, außer neuen Besserwissereien oder neuen Radikalismen. Nichts davon taugt, uns wirklich zu helfen. All das treibt uns nur — weiter.
Jörg Heidig
PS: Das Beitragsbild wurde mit Hilfe künstlicher Intelligenz erstellt.