Texte

Masken über dem Nichts

Unsere gegenwärtige Kultur scheint von Selbstfindung regelrecht besessen zu sein. Ob in immer neuen und immer mehr Selbsthilfebüchern, Coachings, Therapiesitzungen oder in (Selbst-)Darstellungen in den sozialen Medien – die Botschaft ist immer gleich: Irgendwo tief in Dir drin gibt es ein „wahres Selbst“ — es ist vielleicht verborgen, aber es ist da. Es muss nur gefunden werden — unter Schichten von Wunden, erlernten Mustern, gesellschaftlichen Erwartungen. 


Unsere Aufgabe sei es, so das Versprechen, das wahre Selbst freizulegen. Dass daraus eine regelrechte Industrie geworden ist, die nicht dazu beiträgt, dass es uns am Ende des Besens besser geht, merken wir in der Regel nicht. 


Was, wenn die Suche nach dem Selbst gar nicht gelingen kann, weil sie auf einer falschen Annahme beruht? Was, wenn die Idee eines „wahren Selbst“ nur eine (weitere) Maske ist — eine von vielen Masken, die wir tragen, um ein Bild von uns zu erschaffen, mit dem wir leben können?


Von jeher suchen Menschen nach Sinn — im Glauben, in Ideologien, in Beziehungen, in Arbeit. Die zugrundeliegende Annahme ist dabei, dass dieser Sinn tatsächlich existiert. In manchen Theorien oder Glaubenssystemen existiert der Sinn (theoretisch) außerhalb des Menschen (bspw. im Sozialismus); in der heutigen westlichen Welt wartet der Sinn eher darauf, gefunden zu werden. Doch was, wenn solcher Sinn weder vorhanden ist, noch entdeckt werden kann, sondern immer wieder neu erschaffen wird?


Das Leben an und für sich hat keinen letzten Sinn, keine zu findende Bedeutung. Die Bedeutungen, die wir dem Leben verleihen, sind Ergebnisse unserer Interaktionen und unserer Entscheidungen. Ob aus jemandem ein Idealist oder ein Nationalist oder ein anderer — ist oder nichts dergleichen wird, entscheiden die Reaktionen der anderen auf seine Handlungen — und seine eigenen Entscheidungen. 


Ich kann etwas probieren und bekomme es bestätigt, ich finde etwas gut und identifiziere mich damit — und die Leute in meinem Umfeld bestärken mich darin. Oder umgekehrt. Es ist immer eine Mischung aus eigenen Entscheidungen, Probehandeln, Bestätigung, ausbleibender Bestätigung oder Ablehnung, Verstärkung oder Abschwächung.


Wir nehmen Identitäten an, die sich für uns stimmig anfühlen, die zu unserer Geschichte passen, und die wir bestätigt bekommen — oder auch nicht, aber dann verändern wir im Bedarfsfall den Kontext, in dem wir uns bewegen, oder uns selbst. 


Wir können uns selbst neu erfinden, wenn uns etwas nicht passt. In jedem Leben findet das statt, bei manchen stärker, bei manchen schwächer. 


Doch hinter jeder (neuen) Identität verbirgt sich ein gewisses Risiko: Identität hat kein festes Wesen. Sie kann für eine Weile bleiben, aber sie birgt immer auch die Möglichkeit der Veränderung, der Neubestimmung. Und tun wir nicht genau das immer wieder im Leben? Manche sicher mehr, andere weniger.


Die Fähigkeit zur Sprache hat uns vom Zusammenhang direkten Verhaltens entsetzt und uns die Fähigkeit zu denken ermöglicht. Wir müssen nicht direkt reagieren, wir können uns etwas einfallen lassen. 


Wir sind in der Lage, jedem Objekt einen Namen zu geben — indem wir Begriffe verwenden, sind wir in der Lage, uns vom unmittelbaren raumzeitlichen Zusammenhang zu entsetzen. Wir können Dinge — und uns selbst — bezeichnen und uns dadurch zu diesen Dingen ins Verhältnis setzen. Dabei ergibt sich die Bedeutung der Dinge aus der Beziehung, die wir zu den Dingen haben. 


Doch, oh Schreck: Der Natur sind Bedeutungen egal, die Natur ist nur. Tiere verhalten sich, wie sie sich verhalten. Aber wir machen uns einen Kopf, wir suchen nach Bedeutung, weil wir es können


Und dann, und das ist das Verflixte an der Sache, sind da noch wir selbst. Die Entsetzung von den Dingen ermöglicht uns auch die Distanzierung von uns selbst. Unsere Eltern geben uns einen Namen; wir fragen uns später, wer wir sind. 


Als Säugetiere ohne Sprache würden wir uns nur verhalten. Aber durch die Fähigkeit zur Sprache können wir uns etwas fragen. Wir können uns zu unserem Verhalten durch den Gebrauch von Begriffen ins Verhältnis setzen. Anstatt einfach nur zu sein, können wir uns fragen, wer oder was wir sind — und wer oder was wir sein wollen. 


Wir kommen aus der an und für sich „bedeutungslosen“ Welt der Säugetiere, haben aber irgendwie die Fähigkeit erlangt, uns zu fragen, was das alles bedeutet. 


Es bedeutet nichts, aber wir fragen uns, was es bedeutet. Wir verstehen das nicht, weil wir uns weiter fragen, eben weil wir es können, und weil uns unsere Fähigkeit zu denken das gleichsam ermöglicht. 


Wir müssen natürlich nicht („Selig sind die Einfältigen“), aber viele tun es eben, weil sie es können — und fallen dann auf die Sinnsuche-Fachliteratur herein, anstatt den einen Schritt weiterzugehen und zu verstehen, dass das alles gar keinen innewohnenden Sinn hat, sondern wir nur danach suchen, weil uns die Sprache befähigt, Dingen Bedeutung zu verleihen und wir diese Fähigkeit auch auf uns selbst anwenden. 


Uns Fragen nach dem Sinn zu stellen, bringt keine weiteren — und schon gar keine letzten — Antworten, aber wir können nicht anders. Einerseits mag das eine gewisse Freiheit bedeuten. Andererseits bedeutet es aber auch, dass wir uns einen Kopf machen können über Fragen, auf die wir gleichzeitig keine Antwort finden können. 


Es gibt keinen authentischen Kern, der darauf wartet, freigelegt zu werden. Jedes Mal, wenn wir glauben, uns selbst „gefunden“ zu haben, haben wir uns lediglich eine neue Facette oder eine neue Selbst-Konstruktion zugelegt — durch Feedback von anderen oder durch eigene Entscheidungen (oder wahrscheinlich eine Mischung aus beidem).


Soziale Medien erscheinen aus dieser Perspektive als ultimative Spiegel: Je mehr wir eine Identität performen, desto mehr wird sie uns durch die Reaktionen anderer gespiegelt und ggf. bestätigt. Unsere Entscheidungen formen sich gleichsam aus der Bestätigung, die wir erhalten. Wir lernen, was belohnt, was ignoriert und was kritisiert wird.


Doch wir sehen nur Reflexionen. Das Selbst ist nicht etwas „Innerliches“, sondern wird in einem endlosen Feedback-Kreislauf gebildet. Die ersten Reflexionen liefern unsere Eltern, indem sie sagen: „Du bist…“ oder „Das hast Du … gemacht.“ 


Im Grunde erhalten wir die ersten Annahmen über uns selbst aus den Reaktionen der uns nächsten Personen, wenn wir klein sind. Wir können uns daran aber kaum erinnern. Wir erinnern uns an spätere Reaktionen. Und spätestens im Alter von ca. zwölf Jahren beginnen wir, verschiedene Rollen auszuprobieren. Was wir dann und später bestätigt bekommen, wird unser bewusstes Selbstbild. Die Identitäten davor bleiben als eine Art „geprägter Schatten“ im Hintergrund.


Wir passen unser Selbstbild ständig an die sozialen Spiegel an, die uns vorgehalten werden — soziale Medien versetzen diesen Prozess in einen „Turbo-Modus“. 


Identität ist nicht stabil, sondern fließend und reaktiv — abhängig vom Kontext und von den Reaktionen anderer. Was wir „Selbstfindung“ nennen, ist oft nichts anderes als die Optimierung oder Neuschaffung jener Maske, die uns in einem bestimmten Umfeld den größten Vorteil verschafft.


Viele von uns klammern sich an Identitäten, weil die Alternative — die Erkenntnis, dass es kein festes Selbst gibt – unerträglich erscheint. Wenn wir akzeptieren, dass wir nur die Summe unserer wandelbaren Entscheidungen und Erfahrungen sind — was hält uns dann noch? Was macht uns dann „real“? Wenn wir nur aus Erinnerungen und Gewohnheiten bestehen, was sind wir dann? Oder wer?


Diese Angst ist die Grundlage moderner Verlorenheit. Je mehr wir an die Notwendigkeit der Selbstfindung glauben, desto verlorener fühlen wir uns, weil keine endgültige Wahrheit aufscheint. Je mehr wir versuchen, uns zu finden, desto mehr erkennen wir, dass jede Definition nur vorübergehend, ersetzbar und letztlich konstruiert ist.


Vielleicht sollten wir die Suche nach einem endgültigen Selbst aufgeben. Vielleicht geht es nicht darum, eine verborgene Wahrheit zu enthüllen, sondern zu akzeptieren, dass wir uns andauernd neu konstruieren — und je mehr Entwicklungsanforderungen es gibt, desto schneller geht dieser Prozess. 


Wenn ich Zeit meines Lebens im gleichen Ort lebe und bei der gleichen Firma arbeite, wird sich viel weniger verändern, als wenn sich die Zusammensetzung der Menschen, mit denen ich am meisten rede, schnell ändert, ich öfter umziehe, den Arbeitgeber wechsle usw. 


Statt das Nichts unter unseren Masken zu fürchten, können wir den Prozess der ständigen Veränderung unserer Identität als einen Raum der Möglichkeiten begreifen. Das Leben selbst hat keine innewohnende Bedeutung. Wenn man das begriffen hat, lohnt es sich, das Leben dennoch zu leben. Wenn man dem Leben eine Bedeutung gibt (durch eine Entscheidung), oder wenn man nicht hinterfragt, in welchen Sinn man hineingeboren wurde, hat man es ggf. ein bißchen einfacher. 


Am Ende ist es sehr unwahrscheinlich, dass es Gott gibt. Aber es ist unter Umständen hilfreich, so zu leben, als ob es ihn gäbe.


Dieser Text wurde keineswegs als „postmoderne Relativierung“ oder als Ausdruck von „anything goes“ geschrieben. Im Gegenteil. Wir müssen Entscheidungen treffen. Wir müssen unsere Entscheidungen begründen. Aber es gibt eben nicht jenen „eigentlichen Orientierungspunkt“, den wir finden können. Es gibt „Grundlinien des Denkens“, die in unserer Kindheit und Jugend erlernt werden, die uns vertraut (im Sinne von gewohnt) sind. Aber diesen Grundlinien wohnt nichts Absolutes inne. Sie sind nicht per se besser oder schlechter als die Grundlinien, die heute junge Menschen erlernen. Früher gab es weniger Autos, heute gibt es mehr Autos. Früher gab es weniger Migranten, heute gibt es mehr Migranten. Die Welt ist erstmal nicht besser oder schlechter, nur weil sie sich verändert. Das tut die Welt sowieso. 


Wenn es um unsere Orientierung geht, bedarf immer eines Zwecks: Wozu ist dies oder jenes, wozu soll dies oder jenes verändert werden? Es gibt keine letzten Wahrheiten, auch die Menschenrechte oder eben Gott sind im Grunde verhandelbare Bedeutungen, die von Zustimmung abhängig sind. 


So werden wir zum Beispiel keine letzte Antwort finden, wie viel Freiheit genug ist. Wir können sicher wissen, dass im Angesicht der Unfreiheit mehr Freiheit besser ist. Und dann engagieren wir uns, vielleicht riskieren wir etwas oder müssen sogar kämpfen, und wenn wir Erfolg haben, werden wir eine Weile denken, dass die Geschichte nun endet — bis uns die Geschichte lehrt, dass es so einfach nicht ist. 


Wenn wir irgendetwas absolut stellen, ist das hilfreich, solange es noch nicht der herrschende Gedanke ist. Ist etwas absolut Gestelltes zum herrschenden Gedanken geworden, entstehen ziemlich sicher auch neue Monster


Es fällt uns regelmäßig sehr schwer, das verflixte Gleichgewicht zu erkennen. 


War mehr Freiheit im Angesicht der Unfreiheit besser, ist mehr Freiheit nicht mehr besser, wenn die früher bekämpfte Unfreiheit verschwindet. Aber weil wir das kaum erkennen, machen wir weiter — und überfeinern die Ansprüche. Aus einem Engagement gegen die Intoleranz wird (anonyme) Toleranz, und später werden die Ansprüche soweit überfeinert, dass man gleichsam prophylaktisch so kommunizieren muss, dass sich niemand auch nur ansatzweise diskriminiert fühlen darf, auch wenn die betreffende Identität ggf. noch gar nicht abschließend definiert ist oder sich ggf. übermorgen wieder ändert. Vollständige Inklusion ist praktisch unmöglich.


Teile unserer Gesellschaft erscheinen dabei so erhaben vor der Geschichte, dass sie gar nicht merken, dass sie aufgeblasene Idealisten zu Entscheidern machen, die völlig blind sind für das, was eine Gesellschaft eigentlich zusammenhält. There is no decency left in our culture


Auch wenn es sehr unwahrscheinlich ist, dass wahr ist, was in den heiligen Büchern steht — es lohnt sich trotzdem, sich daran zu halten. Sonst lernen wir, wie so oft, wieder nichts aus der Geschichte. 


Oder anders: Achtzig Jahre Frieden sind zu viel — nicht, weil achtzig Jahre Frieden an und für sich zu viel sein können; Frieden kann nicht „zu viel“ sein. Aber weil Teile von uns den Respekt vor dem Schrecklichen verloren haben, das passieren kann, und weil andere Teile von uns es an entscheidenden Stellen stabil besser wissen — und zwar an allen möglichen Enden des politischen Spektrums — entstehen neue Bereitschaften für sehr alte Fehler, und zwar ohne es zu merken. 


Am Ende des Besens wird es eine obsolete Frage gewesen sein, wie das angefangen hat oder wer es angefangen hat. Es sind immer gesellschaftliche Interaktionen, die uns treiben — das eine Verhalten verstärkt das andere und umgekehrt. Dass es sich dabei um Wechselwirkungen handelt, fällt nicht auf, weil man die eigenen Reaktionen ja stabil begründen kann, und zwar mit der Ablehnung der jeweils anderen Handlungen. 


Wir taumeln immer gemeinsam in Richtung Abgrund, und es gelingt uns nicht, aus der Dynamik des Taumelns auszusteigen. Empörung und Belehrung bedingen und verstärken sich gegenseitig. Es ist wie ein Fluch, der auf uns liegt — und jeder Versuch, den Fluch abzuschütteln („Wir können so nicht weitermachen“ vs. „Wehret den Anfängen“) wird nur zu einem weiteren kleinen Beschleunigungsimpuls in Richtung Zuspitzung und Spaltung.


Wenn unser Selbst keinen „authentischen Kern“ hat, sondern es nur ältere oder jüngere Masken gibt, dann sind jene „falschen Selbstbilder“ in gewisser Weise gar nicht falsch, sondern real, eben weil sie (seinerzeit funktionale) Anpassungen oder Entscheidungen waren. Die Karriereorientierte, der Fürsorgliche, die Rebellin — das sind keine Masken, die ein wahres Selbst verbergen, sondern sie sind Facetten dessen, wer wir zu einem bestimmten Zeitpunkt aus einem jeweils ganz bestimmten Grund waren. Wir entdecken also kein „wahres“ Selbst, sondern eine frühere Version von uns. Vorwärts geblickt „wählen“ oder „konstruieren“ wir unsere Masken immer wieder neu.


Hier scheint ein Paradoxon auf: Therapeuten oder Coaches laden uns gern ein, dass wir „werden sollen, wer wir wirklich sind“. Aber wenn dieses „wahre Ich“ nur eine Annäherung an eine frühere Version meines Selbst ist (so ganz genau werde ich das ja nie wissen, eben weil das alles lange her ist, ich jung war, viele Dinge nicht genau weiß usw.), dann ist das vermeintliche „wahre Selbst“ nur eine weitere Konstruktion, die erst durch den beraterischen oder therapeutischen Prozess erschaffen wird.


Viele Menschen suchen in Coaching oder Therapie nach einem Endpunkt, einem Moment des Ankommens — dem Punkt, an dem sie endlich wissen, wer sie sind, warum sie so handeln, wie sie handeln, und was sie in Zukunft anders machen sollten. Doch wenn Identität fließend ist, dann ist „Heilung“ kein Ziel, sondern ein fortlaufender Akt der Neuinterpretation.


Dieser Gedanke ist für viele Menschen sicher beängstigend. Aber dieser Gedanke kann auch befreiend sein — denn wenn es kein festes Selbst gibt, das gefunden werden kann, könnte es dann nicht sein, dass die Suche selbst das eigentliche Problem ist?


Wer sich selbst sucht, findet nichts.


Wenn wir in einer Therapie nur auf frühere Entscheidungen, frühere Anpassungen stoßen können, dann ist das Selbst ein Prozess. Und wenn das Selbst ein Prozess ist, dann geht es in Therapie oder Coaching nicht um das Finden einer Wahrheit — sondern gleichsam um die „Autorschaft“ in Bezug auf das eigene Leben.


Wenn die bisherigen Betrachtungen nicht falsch sind, dann haben sie tiefgreifende Konsequenzen für unser (postmodernes) Identitätskonzept. Wenn wir akzeptieren, dass Identität etwas Konstruiertes ist, müssen wir auch akzeptieren, dass das, was wir „Selbstausdruck“ nennen, in Wahrheit oft eine Form der „Performance“ ist, im Grunde also immer auf einer Bühne stattfindet.


Soziale Medien verstärken diese „Performance“. Manche von uns inszenieren „sorgfältig kuratierte“ Identitäten, indem sie jene Aspekte ihres Selbst hervorheben, welche die größte Bestätigung erhalten. Was früher nur in realen sozialen Situationen geschah – das Anpassen der eigenen Maske an die jeweilige Umgebung –, findet nun — mehr oder weniger in Echtzeit — auf einer ebenso globalen wie elektronischen „Bühne“ statt.


In diesem Sinne erfüllen Therapie und Coaching auf der einen Seite und soziale Medien auf der anderen Seite eine ähnliche Funktion. Beide bieten Spiegel, beide unterstützen die (vermeintliche) Selbstfindung, die in Wahrheit eine auf Interaktion beruhende Selbsterschaffung oder Selbstdarstellung ist. Wir können nicht „entdecken“, wer wir sind, aber wir sind gut darin, unsere Masken anzupassen — erst anderen und dadurch auch uns selbst etwas vorzuspielen, vorzustellen, vorzumachen. Social Media versetzt uns in die Lage, die Kreation unserer Masken zu beschleunigen und zu verfeinern.


Wenn Identität ein fortlaufender Konstruktionsprozess ist, dann geht es gar nicht darum, uns selbst zu „finden“, sondern vielmehr darum, anzuerkennen, dass wir immer in Bewegung sind. Dann können wir die Fantasie eines „finalen Ankommens“, einer „endgültigen Lösung“ oder eines „finalen Anerkennens und Loslassens“ aufgeben. Wir könnten dann akzeptieren, dass wir uns immer weiterentwickeln, und dass jede signifikante Wahl, die wir treffen, unsere Identität verändert. Es bedeutet zu verstehen, dass weder unsere Vergangenheit uns definiert, noch unsere Zukunft. Wir bestehen aus Erinnerungen und Gewohnheiten, aus den verinnerlichten Rückspiegelungen unserer Mitmenschen, aus unseren Entscheidungen, ggf. nach anderen Spiegeln zu suchen usw.


Anstatt eine endgültige Wahrheit zu suchen, könnten wir uns fragen:

  • Welche Identität verstärke ich mit meinen Handlungen?
  • Welche Bedeutung erschaffe ich mir gerade selbst, indem ich handle, wie ich handle?

Bisher haben wir nur die individuelle Ebene untersucht. Unsere eigene, persönliche Identität mag in der Tat „flüssiger“ sein, als wir annehmen. 


Wenn wir in mehr oder minder kontinuierlichen Umgebungen leben, sich also unsere Spiegel kaum ändern, hält sich die Veränderungsdynamik in Grenzen, dann haben wir vielleicht tatsächlich den Eindruck einer relativ konstanten Identität. Leben wir jedoch in dynamischen Umgebungen mit wechselnden Herausforderungen und dynamisieren wir unsere Spiegel weiter, indem wir auf Social Media aktiv sind, müssen wir uns nicht wundern, wenn wir uns nach einer Anzahl von Jahren auch selbst kaum mehr wiedererkennen. 


Als diese Dynamik aufkam, hat Richard Sennett die damals beobachtbaren Entwicklungen einmal als „Corrosion of Character“ bezeichnet. Wenn man Charakter als etwas Stabiles ansehen möchte, dann ist seither tatsächlich eine gewisse „Verflüssigung“ oder „Beschleunigung“ zu beobachten. 


Auch wenn die Suche nach dem „wahren Selbst“ eine Illusion ist, bedeutet das nicht, dass diese Illusion keine realen Konsequenzen haben kann, im Gegenteil. Mit der immer individuelleren Identitätskonstruktion geht eine Popularisierung des Narzissmus’ einher, die letztlich bewirkt, dass Narzissmus nicht mehr nur eine Eigenschaft Einzelner ist, sondern zunehmend zur gesellschaftlichen Norm wird.


Etwas überspitzt formuliert, lautet die Frage: Was passiert, wenn die Selbstsuche zu einer gesellschaftlichen Notwendigkeit wird, wenn von jedem erwartet wird, seine Identität ständig zu optimieren und zu präsentieren?


Von der Selbstfindung zur Selbstinszenierung

In dem Moment, in dem wir akzeptieren, dass Identität konstruiert ist, wird auch klar, dass Identität zunehmend einem Wettbewerb unterliegt.

In einer Welt, in der wir uns über unsere Entscheidungen, über das, was wir preisgeben und wie wir es preisgeben, definieren, wächst der Druck, die eigene Selbstinszenierung aktiv zu gestalten. Soziale Medien sind nicht nur Verstärker von Identität — sie sind ein regelrechtes „Schlachtfeld“ um Identitätsbestätigung und -verstärkung.


Der Prozess folgt einer gewissen Logik:

  • Identitäten werden nicht mehr durch Tradition, Religion oder feste soziale Rollen vorgegeben — wir müssen sie aktiv erschaffen.
  • Wenn Identität nicht mehr (durch Geburt, Glaube, soziale Strukturen oder Gruppen usw.) gegeben, sondern gewählt oder erschaffen und in sozialen Medien präsentiert wird, dann wird ihr Wert durch externe Bestätigung bestimmt — durch Likes, Follower und das Feedback anderer.
  • Die am meisten bestätigten Identitäten werden zu Vorbildern, die andere nachahmen, was zu einer Eskalation der Selbstinszenierung führt — ein Wettlauf darum, noch einzigartiger, inspirierender oder sichtbarer zu sein.
  • Mit der Zeit verwandelt sich Identität von einer privaten Erfahrung in ein öffentliches Spektakel.


Das Ergebnis: Eine Gesellschaft, in der Selbstwert nicht mehr durch eine innere Erfahrung definiert wird, sondern durch die erfolgreiche Aufführung einer Selbstdarstellung.


Am Ende liegen die Egos völlig offen, selbst kleinste Anlässe genügen, um zu eskalieren. Die eigenen Kinder werden zum Teil der Selbstverwirklichung. In einem Konflikt entschuldigt man sich nur, wenn sich auch die andere Seite entschuldigt; die entsprechenden Verhandlungen werden immer länger und die Anlässe für solche Verhandlungen immer geringfügiger. 


Traditionell wird Narzissmus als überhöhtes Selbstbild, Bedürfnis nach Bewunderung und Mangel an echter Empathie verstanden. Doch der hier beschriebene neue Narzissmus ist anders — er ist strukturell.


Das moderne Leben hat perfekte Spiegel erschaffen – soziale Netzwerke und algorithmische Verstärkung spiegeln uns ständig die neuesten bzw. am meisten belohnten Versionen von uns selbst zurück.


Dies führt zu zwei gefährlichen Dynamiken:

  • Identitätsinflation: Der Druck, immer grandiosere, beeindruckendere oder emotional packendere Versionen des eigenen Selbst zu konstruieren, um relevant zu bleiben, wächst.
  • Validierungssucht: Eine Abhängigkeit von externer Anerkennung, bei der Selbstwert nicht mehr aus individuellen Handlungen, sondern aus Bestätigung entsteht.


Was passiert, wenn jeder Mensch seine Daseinsberechtigung nicht nur vor Freunden oder Familie, sondern vor einem globalen Publikum „beweisen“ muss?


Das Ergebnis ist eine Welt, in der Identität ständig „performt“ werden muss, eine Welt, in der Narzissmus nicht mehr nur eine individuelle Eigenschaft oder Störung ist – sondern die dominante soziale Bedingung.


Das Paradoxon ist offensichtlich: Wir leben in einer Zeit, die Authentizität verherrlicht, doch gleichzeitig existieren wir in Systemen, die Authentizität unmöglich machen. Die Aufforderung, „echt zu sein“, wird kommerzialisiert. Jede „offene“ Beichte, jede „ehrliche“ Reflexion wird letztlich zur Performance, die auf Bestätigung abzielt. Verletzlichkeit wird zur Ware. Was früher zur privaten Reflexion gehörte, wird nun für ein Publikum inszeniert. Es gibt hier scheinbar keinen Weg zurück aus dem Reich der Spiegel. Selbst der Rückzug aus sozialen Medien oder die bewusste Verweigerung öffentlicher Selbstdarstellung sind immer noch Identitätsentscheidungen — Entscheidungen, die von anderen beobachtet und interpretiert werden. Wir befinden uns in einer Narzissmus-Spirale, in der das ständige Streben nach Bestätigung nicht zu Erfüllung führt, sondern nur zu noch mehr Bedürfnis nach Bestätigung. 


Lagen unsere Selbstbilder bereits wie Masken über dem Nichts, haben wir nun einen Turbo installiert, dessen Brummen und Dröhnen uns noch einmal mehr von möglichen Einsichten abhält. 


Nietzsches „Übermensch“ sollte eine Figur sein, die von äußeren Zwängen befreit ist — ein Individuum, das in der Abwesenheit religiöser Autorität seinen eigenen Sinn erschafft — ein Rad, das aus sich selbst heraus rollt. 


Haben wir im Zeitalter der Hyper-Performance möglicherweise das gegenteilige Extrem erreicht?


Wir sind nicht befreit – wir sind gefangen zwischen unseren Spiegeln:

  • Je mehr wir nach Sinn in Selbstkonstruktion suchen, desto weniger real fühlt sich unser Selbst an.
  • Je mehr wir nach äußerer Bestätigung suchen, desto hohler wird unsere innere Welt.
  • Je mehr wir unsere Masken verfeinern, desto deutlicher wird, dass dahinter nichts ist.

Wenn es einen Ausweg aus dieser Spirale gibt, dann liegt er nicht in einem weiteren Selbstkonzept, einer weiteren Maske oder einem neuen Publikum. 


Wir müssen der Frage nachgehen, was es bedeutet, wenn Sinn nur eine weitere Wahlmöglichkeit ist. Wenn wir nicht zu einer festen Identität zurückkehren können — wenn wir nicht in eine Welt fliehen können, in der Bedeutung vorgegeben ist, wohin gehen wir dann?


Das hohle Labyrinth

Früher wurde Bedeutung „geerbt“. Sie kam aus der Tradition, der Kultur, aus dem Glauben. Man wurde in ein bestehendes System aus Werten und Überzeugungen hineingeboren. Bedeutung war keine persönliche Wahl – sie wurde empfangen, getragen und weitergegeben. Heute aber ist Bedeutung — genau wie Identität — radikal selbstbestimmt. Wir wählen Bedeutung.


Anfangs fühlt sich das wie Befreiung an. Wir sind frei, unseren Zweck zu definieren, unser eigenes „Narrativ“ zu erschaffen, das unserem Leben Richtung gibt. Doch dann folgt die Erkenntnis: Wenn Bedeutung eine Wahl ist, dann ist Bedeutung auch beliebig. Und wenn Bedeutung beliebig ist, dann bricht jeder Weg, den wir einschlagen — jede Philosophie, jeder Glaube, jede Identität — irgendwann möglicherweise unter dem eigenen Gewicht zusammen. Es gibt keine „großen Erzählungen“ mehr, die mir helfen, wenn ich stolpere. Ich bin mit meinem Stolpern allein. Wenn „mein Narrativ“ reicht, aus dem Stolpern wieder in Gang zu kommen, gut. Wenn nicht, dann ist das mein Problem. Punkt.


Statt auf einem offenen Feld voller Möglichkeiten finden wir uns in einem hohlen Labyrinth wieder – einer endlosen Schleife, in der jede Tür uns wieder zu uns selbst zurückführt. Vielleicht suchen wir nach Wahrheit. Aber wir ahnen, dass jede Wahrheit nur eine weitere Maske ist.


Am Ende gibt es keinen Ausweg. Der Ausgang bleibt versperrt. Das moderne Individuum steht im Zentrum dieses hohlen Labyrinths — überwältigt und erdrückt von Möglichkeiten: Jede Entscheidung trägt unendliche Alternativen in sich – und damit das Gewicht all dessen, was wir nicht gewählt haben. Jede Verpflichtung, jede Entscheidung fühlt sich fragil an — weil wir wissen, dass wir uns auch hätten anders entscheiden können.


Das ist das Paradox der absoluten Freiheit: Ohne äußere Begrenzungen, ohne einen gewissen Zweck erscheint jede Entscheidung irgendwie leer.


Hier beginnt etwas, das man am Ehesten als „existenzielle Erschöpfung“ bezeichnen könnte. Wie reagieren wir auf diese existentielle Erschöpfung? 


Manche stürzen sich in endlose Selbst-Neuerfindung — in der Hoffnung, dass das nächste Selbst, die nächste Bedeutung, die nächste Identität sich endlich real anfühlen wird. Manche suchen Ablenkung, betäuben die Bewusstheit ihrer eigenen Leere. Manche erkennen, dass keine Wahl jemals wahrer sein wird als eine andere.


Wieder andere verdoppeln ihren Einsatz. Sie weigern sich, die Leere zu akzeptieren. Sie suchen nach einer Antwort, die stark genug ist, um den Zweifel zum Schweigen zu bringen — und werden zu „Missionaren“, sie versuchen, andere von dem, was sie gefunden haben (eine „Wahrheit“, einen ultimativen Sinn, eine „richtige“ Ideologie), zu überzeugen. Am Ende ist das nur eine weitere Form der Selbstkonstruktion. Im Eifer der Erleuchtung und in all den Konflikten, die Überzeugungsdruck mit sich bringt, gehen die Zweifel unter, werden zum Schweigen gebracht.


Das endlose Labyrinth der Wahlmöglichkeiten ist für viele unerträglich. Und so konstruieren sie sich ihre eigenen Mauern, zwischen deren Zinnen sie sich dann zeigen können — mit moralischer Überlegenheit, ideologischer Absolutheit, mit extremen Überzeugungen:

  • Wenn alles Mögliche eine Option ist, dann ist der einzige Weg, den Zweifel zu besiegen, die Optionen zu reduzieren.
  • Wenn Identität fließend ist, dann besteht der einzige Weg, sich real zu fühlen, darin, sich an eine Identität zu binden, die so starr ist, dass sie nicht hinterfragt werden kann.
  • Wenn Bedeutung beliebig ist, dann ist der einzige Weg, sich verankert zu fühlen, eine Bedeutung zu wählen, die so absolut ist, dass sie nicht angezweifelt werden kann.


Deshalb erleben wir in einer Ära „radikaler Selbstdefinitionsoptionen“ („anything goes“) gleichzeitig den Aufstieg von ideologischem Extremismus und hyperstarren Weltbildern. Je flüssiger Identität wird, desto mehr sehnen sich Menschen nach Werten und Leitbildern, die unerschütterlich sind. Je beliebiger Wahrheit wird, desto mehr suchen Menschen nach unumstößlichen, unbestreitbaren Maximen. Je erschöpfter wir werden, desto mehr sehnen wir uns nach einer Welt mit begrenzten Optionen.


Angesichts unendlicher Möglichkeiten ist der verführerische Ausweg nicht etwa „mehr Freiheit“ — sondern Unterwerfung unter etwas, das größer ist als wir selbst.


Zunächst erscheint die Möglichkeit, sich selbst immer wieder neu zu erfinden, wie die ultimative Befreiung: Wir sind nicht an alte Identitäten gebunden. Wir sind nicht in gesellschaftlichen Normen gefangen. Wir sind nicht durch Geschichte, Tradition oder Verpflichtungen belastet. 


Theoretisch sind wir vollkommen frei zu sein, wer immer wir sein wollen.


Doch hier liegt das Paradox: Je mehr wir uns neu erfinden, desto mehr erkennen wir, dass es keine endgültige Version von uns gibt: Jedes Selbst, das wir erschaffen, ist nur eine weitere Variante, die wir auch wieder ablegen können. Jede Wahl, die wir treffen, ist nur eine von unendlich vielen, die wir hätten treffen können. Jede Neuerfindung ist nur vorübergehend — weil bereits die nächste auf uns wartet.


Statt zu jemandem zu werden, bleiben wir im reinen Werden gefangen. Wir existieren nicht als etwas Solides — wir existieren nur im Akt der Selbsterschaffung. Das ist keine Freiheit. Das ist nur ein Käfig ohne Wände, ein Gefängnis aus Spiegeln, in dem jede Reflexion eine Möglichkeit ist.


Dies führt zu einem fundamentalen Problem: Wenn jede Identität eine Maske ist, was bedeutet es dann, authentisch zu sein? Können wir „Authentizität“ wählen? Und wenn sie gewählt werden kann, was macht Authentizität dann weniger künstlich? Können wir „Authentizität“ entdecken? 


Aber was, wenn es nichts zu entdecken gibt außer weiteren Masken? Bedeutet Authentizität, „sich selbst treu zu sein“? Aber was, wenn dieses „authentische Selbst“ nur eine weitere Inszenierung ist?


Wir leben in einer Zeit, die „Echtheit“ idealisiert — während sie gleichzeitig unendlich viele Werkzeuge zur Selbststilisierung, Selbstvermarktung und Selbstmanipulation erschafft: Wir präsentieren Versionen von uns selbst online. Wir verändern unsere Persönlichkeiten basierend auf sozialem Feedback. Wir passen unsere Überzeugungen, Wünsche und Werte den Rahmen an, in die wir uns einfügen wollen.


Und doch bleibt hinter all dem das nagende Gefühl, dass unter der Performance nichts Festes existiert.


Nirgends wird diese Dynamik deutlicher als in der Social-Media-Kultur. Auf Plattformen wie Instagram, TikTok oder LinkedIn sind Menschen nicht einfach sie selbst — sie sind Marken ihrer selbst:

  • Die Influencerin, die sich als Wellness-Guru in Szene setzt, und die behauptet, dass sie ihre „wahre Bestimmung“ gefunden hat — und einen Online-Kurs verkauft, damit auch du deine „wahre Bestimmung“ finden kannst.
  • Der Unternehmer, der „authentisch lebt“ — aber jeden Beitrag auf maximale Reichweite optimiert.
  • Der Künstler, der „aus der Seele heraus schafft“ — während er ständig Algorithmen für mehr Sichtbarkeit analysiert.


Das Paradox ist gnadenlos: Je mehr wir versuchen, authentisch zu sein, umso mehr müssen wir eine Identität konstruieren, die authentisch aussieht. In einer Welt, in der (fast) alles zur Performance wird, wird selbst die Ablehnung der Performance zu einer neuen Performance.


Das ist der strukturelle Kern der heutigen Narzissmus-Dynamik: Das Selbst wird zum einzigen stabilen Bezugspunkt. Alle Bedeutung und jeder Zweck werden durch das Selbst gefiltert. Alles — Beziehungen, Überzeugungen, Handlungen — wird zum Spiegel des Selbst.


In seiner extremen Form erklärt dies, warum Narzissmus in der modernen Kultur so floriert: Wenn Identität flexibel ist, zählt nur noch, wie das Selbst von außen wahrgenommen wird. Wenn Bedeutung beliebig ist, zählt nur noch, wie das Selbst sie erlebt. Wenn Werte fließend sind, zählt nur noch, was dem Selbst nützt. So ersetzt Selbstinszenierung die tatsächliche Selbstreflexion.


Statt zu fragen „Wer bin ich?“, fragen wir „Wie wirke ich?“ Statt zu sein, konzentrieren wir uns darauf, gesehen zu werden. Statt Bedeutung in etwas außerhalb von uns zu finden, suchen wir sie nur noch in uns selbst.


Charles Bukowski soll einmal gesagt haben: „Finde etwas, das du liebst, und lass es dich töten.“

Das ist eine brutale, aber tiefgründige Einsicht: Wenn Bedeutung immer selbst erschaffen wird, dann ist der einzige Weg, der Erschöpfung durch ständige Neuerfindung zu entkommen, sich für etwas zu entscheiden – und sich diesem „Zweck“ dann mehr oder weniger zu verschreiben. Wenn Identität immer selbst konstruiert ist, dann ist der einzige Weg, sich real zu fühlen, sich mit etwas zu verbinden, das man größer sein lässt als man selbst. 


Und genau das tun wir ja nicht mehr: Wir ordnen unsere eigenen Belange nicht mehr unter, wir deklinieren unsere eigenen Belange auf Augenhöhe — mit unseren Partnern, unseren Arbeitgebern usw. Oder wir stellen unsere eigenen Belange gar über die Belange der anderen. Wenn das Gemeinsame — der Zweck, auf den wir auf der Ebene der Gesellschaft einzahlen sollten — noch nicht tot auf der Wiese liegt, stirbt es spätestens, wenn wir die eigenen Belange vollends über die gemeinsam relevanten Belange stellen.


Wir lassen kaum mehr etwas größer sein als wir selbst. Hinzu kommt, dass wir irgendwann um das Jahr 2000 herum auch angefangen haben, uns unseren Kindern zu unterwerfen oder sie mindestens auf Augenhöhe zu erziehen. Solchermaßen verstandene Freiheit führt zu konsequenter Loslösung vom Gemeinsamen und zu endloser Selbstsuche — und ziemlich sicher nicht zu irgendeiner Form von Erfüllung.


Wir gehen uns verloren, wenn wir durch eine Landschaft unendlicher Wahlmöglichkeiten treiben und uns endlos neu erfinden: Wir brauchen Anker. Wir brauchen Verpflichtungen. Wir brauchen etwas, das stark genug ist, um der Anziehungskraft der reinen Selbstbesessenheit zu widerstehen.


Damit stehen wir vor der letzten Frage dieses Textes: Was bleibt, wenn da eigentlich kein Kern ist, wir nur Maske an Maske reihen und wir dabei auch noch den Schalter für den Narziß-Turbo gefunden haben?


Wenn wir akzeptieren, dass Identität gewählt und dass Bedeutung konstruiert wird, und wenn wir anerkennen, dass das Selbst fließend ist — was kann dann als Anker dienen? Wenn wir allzu esoterische Illusionen irgendeines Sinns, den es unabhängig von uns zu finden gilt, ablehnen, uns gleichzeitig aber auch einem zynischen Nihilismus verweigern, wo stehen wir dann? 


Die Welt, in der wir heute leben, ist eine Welt der Beliebigkeit. Wir entwerfen uns selbst, wir „kuratieren“ unsere Performance. Wir sind nicht, was wir sein wollen, sondern wir sind, was unsere Likes aus uns machen. Wir können uns alles Mögliche einbilden, ohne dass wir dahinter blicken. Diese scheinbare Freiheit ist ebenso berauschend wie erschöpfend. Denn Freiheit ohne Struktur ist nur eine andere Form der Gefangenschaft.


Wenn alles möglich ist, ist nichts bedeutsam. Wenn sich alles verändern kann, ist nichts stabil. Wenn jede Identität nur eine Maske ist, verliert der Akt der Wahl jegliche Bedeutung, dann „kuratieren“ wir nur unsere Masken. Wenn wir das Labyrinth aus Spiegeln nicht verlassen können, müssen wir einen Weg finden, darin zu leben. Aber wie? Bedeutung kann nicht wie eine Ware produziert werden. Sie muss Gewicht haben.


Viele fliehen in Dogmen — Ideologie, Nationalismus, extreme Überzeugungssysteme —, die Gewissheit versprechen. Doch das ist nur eine weitere Maske — und zwar eine, die aus Angst gewählt wurde. Wenn nichts mehr übrig ist, dann gibt es immer noch irgendein verflixtes System aus Überzeugungen. Man betrachte die politische Landschaft, im Besonderen auf der linken Seite: Wenn die eigentliche Agenda verloren gegangen ist, werden Ersatzthemen gefunden und die damit verbundenen Meinungen umso heftiger vertreten. Am Ende wird die Suche nach Zustimmungsfähigkeit, von der eine Demokratie unter anderem lebt, durch radikales Moralisieren ersetzt.


Was also bleibt?

Wenn es stimmt, dass das Leben keine inhärente Bedeutung hat, können wir das nicht ignorieren. Wir müssen die Bedeutungslosigkeit akzeptieren — und trotzdem handeln. Wir erschaffen Bedeutung selbst — und zwar nicht als auf das Selbst bezogene Masken, sondern durch Engagement für andere, für einen Zweck, den wir größer sein lassen als uns selbst. 


Soweit die Argumentation in diesem Text nicht abwegig ist, erscheint dies eine der wenigen Antworten zu sein, die nicht zu Lähmung oder Verzweiflung führen. 


Es geht darum, etwas zu finden, für das es sich zu leben lohnt. Nichts ist an und für sich bedeutungsvoll, wenn es dabei nur um das handelnde Individuum selbst geht und wenn es das Individuum nichts kostet. Liebe ist bedeutsam, weil sie bisweilen auch Opfer verlangt. Meisterschaft ist bedeutsam, weil sie Disziplin erfordert. Zweck ist bedeutsam, weil er Hingabe verlangt.


Bedeutung muss Gravitation haben. Dieser Satz wirkt, als wäre er irgendwie aus einer anderen Zeit, aber er ist hilfreich: Diene etwas, das größer ist als du selbst. Der Weg, der Falle der Selbstbesessenheit zu entkommen, besteht darin, den Fokus auf etwas anderes als das Selbst zu richten: Du bist nicht so wichtig. Kaum jemanden kümmert es wirklich, wie gut du dich selbst inszenierst. Die Welt dreht sich nicht um deine Selbstverwirklichung.


Und genau das ist befreiend.


Wenn wir das Bedürfnis nach Selbstkonstruktion loslassen, können wir uns nach außen richten: Baue etwas auf, anstatt dich ständig neu zu erfinden. Liebe andere, anstatt dich mit Selbstliebe zu beschäftigen. Kreiere, anstatt nur zu konsumieren. Widme dich etwas, das größer ist als Du selbst es bist. Das Selbst wird vermutlich nur dadurch wenigstens ein bißchen „realer“, wenn es verschenkt wird. 

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