Vorwort: In meinen Texten war in den letzten Monaten viel über Reaktanz zu lesen — meiner Ansicht nach ein wesentliches und oft fehlendes Puzzleteil zum Verständnis der aktuellen Lage, und zwar nicht nur auf der politischen Ebene, sondern auch in unseren Organisationen. Es betrifft nicht alle Bereiche/Branchen und schon gar nicht alle Menschen, aber das Phänomen tritt häufig und stark genug auf, als dass es sich lohnt, sich damit zu beschäftigen. Dieser Beitrag geht der Frage nach, was nach der Reaktanz kommt. Skepsis, Rückzug und Widerstand gegen Überzeugungsdruck sind ja keineswegs die letzten Stufen der Treppe. Es sind noch weitere Stufen möglich, nämlich Resignation und ziviler Burnout — und auf der absehbar höchsten Stufe etwas, das man als „paradoxe Rachemotivation“ bezeichnen könnte. Das trifft, wie gesagt, bei Weitem nicht auf alle zu. Aber es trifft eben oft genug zu.
Engagement verebbt leise. Es ist nicht die eine große Krise, die man mit einem Datum versehen könnte. Was wir gerade erleben, ist kein „Knall“, hat aber womöglich die Folgen eines Knalls.
In vielen Gesprächen mit Lehrerinnen, Einsatzleitern, Pflegekräften, Verwaltungsführungskräften, Sozialarbeiterinnen und Führungskräften ehrenamtlicher Organisationen höre ich denselben Ton. Der Ton ist nicht laut, eher müde. Nicht wütend, sondern leer. Die meisten arbeiten weiter, halten durch, bleiben — aber sie glauben nicht mehr daran, dass es besser wird.
In diesem „nicht mehr glauben, dass es besser wird“ liegt der eigentliche Bruch. Ich möchte diesem Bruch einen Namen geben: ziviler Burnout.
Es handelt sich weder um Faulheit, noch um bewusste Verweigerung. Ziviler Burnout ist eher das Ergebnis einer dauerhaften Überforderung — nicht durch die (empfundene) Last allein, sondern durch die Erfahrung, dass die eigenen Handlungen kaum einen oder keinen Unterschied mehr machen.
Nach dem Motto: Egal, wie sehr Du Dich auch anstrengst, was Du auch versuchst — es hilft nichts, die Krise bleibt. Wenn sich Menschen bemühen, wenn sie Ideen haben, Dinge ändern — und dabei das Gefühl verlieren, dass ihr Tun überhaupt noch etwas verändert oder verbessert, dann werden sie irgendwann zwar noch funktionieren, aber innerlich „irgendwie aufgeben“.
Diese Menschen sind dann zwar noch da. Aber sie sind irgendwann nicht mehr (ganz) dabei.
Pflichtverwahrlosung beginnt nicht an der Basis, sie beginnt weiter oben — in Behörden, in politischen Gremien, in größeren Organisationen. Pflichtverwahrlosung beginnt, wenn Führung nur noch verwaltet, statt zu führen; wenn man sich nicht mehr fragt: Wozu tun wir das eigentlich? … Wenn das Budget wichtiger wird als die Richtung des Handelns, wenn Entscheidungen eher getroffen werden, weil man Ruhe haben will, anstatt mit Entscheidungen reale Probleme zu lösen. Die dadurch entstehende strukturelle Orientierungslosigkeit sickert nach unten. Sie erzeugt Resignation oder trägt wesentlich zur ohnehin entstehenden Resignation bei.
Wenn signifikante Mühen ohne Wirkung bleiben, wenn Menschen versuchen, etwas zu verändern, Vorschläge machen und versuchen, neue Wege zu gehen, diese Anstrengungen aber ohne Reaktion oder Ergebnis bleiben, dann lernen die handelnden Personen, dass ihr Handeln keinen Unterschied mehr macht. Die Folge ist ein Phänomen, das man in der Forschung als „erlernte Hilflosigkeit“ bezeichnet hat.
Wer solche Erfahrungen macht, hört mit der Zeit auf zu handeln. Und zwar nicht, weil man nicht will, sondern weil man lernt, dass es nichts bringt, dass es egal ist, ob man handelt oder nicht — eben, weil es keinen spürbaren Unterschied macht.
So entsteht eine Art emotionalen Frostes, eine Art von Zurückhaltung, die sich wie Mehltau über den inneren Antrieb legt. Die Initiative versiegt. Das System funktioniert einstweilen weiter — aber es „lebt“ nicht mehr.
Tief unter dieser Erstarrung regt sich mit der Zeit dennoch etwas — keine Hoffnung, eher Sarkasmus oder sogar Wut. Es bleibt nicht bei der erlernten Hilflosigkeit, sondern es schlägt um — in Trotz. In der Forschung hat man auch dafür eine Bezeichnung gefunden: Reaktanz.
Die offizielle Definition lautet: Widerstand gegen Überzeugungsdruck. Wenn ich etwas anders sehe und belehrt werde, dass ich das gar nicht so sehen darf, entsteht Reaktanz. Reaktanz ist der Versuch, die eigene Sichtweise zu verteidigen und das eigene Ich gegen Überzeugungsversuche zu wappnen. Wer Reaktanz zeigt, sagt von sich: Ich habe mich hilflos gefühlt, aber ich habe meine Sichtweise nicht aufgegeben, und wenn Ihr jetzt noch sagt, dass ich falsch liege, dann sage ich Euch: „Jetzt erst recht! Egal, was Ihr noch sagen werdet: Ich bin dagegen!“
Aus der jeweils anderen Perspektive, und insbesondere aus jener, die sich für „progressiv“ hält, sieht das selbstredend nach Radikalisierung aus. Aber es ist keineswegs (nur) eine (Selbst-)Radikalisierung; es handelt sich bei größeren Teilen der „Reaktanten“ um das Ergebnis eines Interaktionsprozesses zwischen Skepsis und Ablehnung auf der einen und Überzeugungsdruck und Belehrung auf der anderen Seite.
Das ist erst recht kein Wunder, wenn man in Betracht zieht, dass das „gesellschaftliche Fortschrittsversprechen“ versiegt. Vor fünf Jahren (2020) haben noch mehr als die Hälfte der 40-60-Jährigen von sich gesagt, dass ihr Leben in den letzten fünf Jahren besser geworden sei. Heuer sagt das nur noch rund ein Viertel der 40-60-Jährigen. Diese Zahlen stammen aus repräsentativen Befragungen in der Lausitz, die man gern für eine strukturschwache Region halten kann. Aber vielleicht handelt es sich nicht so sehr um eine Folge der Strukturschwäche und der demographischen Zuspitzung, sondern vielmehr um einen Vorboten der Entwicklungen, die auch anderen Regionen in Deutschland und Europa blühen werden, wenn die Bevölkerung auch dort immer älter wird und/oder immer mehr das Gefühl hat, dass man zwar wählen kann, aber dann nicht vertreten wird. Die 40-60-Jährigen sind diejenigen, die ggf. Kinder großziehen, ggf. im Ehrenamt Verantwortung übernehmen, ggf. Führungsverantwortung übernehmen, ggf. ein Haus abzahlen usw.
Es geht hier nicht um eine Momentaufnahme. Was hier beschrieben wird, ist eher der langsame Zusammenbruch einer lange für selbstverständlich gehaltenen Hoffnung: dass Arbeit sich lohnt, dass Engagement und Leistung einen Unterschied machen, dass es in der Demokratie um Mehrheiten geht, dass das Morgen besser wird als das Heute bzw. dass es den Kindern einmal besser gehen wird als ihren Eltern. Wenn diese Hoffnung schwindet, bleibt zunächst die gesellschaftliche oder institutionelle Funktion gültig — aber sie erodiert, weil es keine Verbindung, keine gemeinsame Grundlage mehr gibt.
Es ist kein „Zusammenbruch“ im klassischen Sinne. Es ist ein langsames Entgleiten — ein Funktionieren ohne Herz, eine Gesellschaft im Leerlauf: Auf Reaktanz folgt Resignation. Wenn Widerstand gegen Überzeugungsdruck nichts bringt, lehne ich mich zurück, gebe ich auf. Die äußere Ordnung bleibt bestehen. Doch die innere Verbindung, das leise „Ich tue das, weil ich daran glaube“ — ist verschwunden.
Die so genannte „Zivilgesellschaft“ war vielleicht nur so lange ein attraktives Ziel, so lange es sie noch nicht gab. Die heute „real existierende“ Zivilgesellschaft hat in den Augen vieler Menschen kaum etwas mit dem zu tun, was einmal damit gemeint gewesen sein könnte. Viele Leute wissen nicht mehr, wozu sie Steuern zahlen oder warum sie wählen sollen. Wenn Menschen innerlich kündigen, liegt das selten an fehlender Motivation. Es liegt an fehlender Verbindung, an ausbleibendem Sinn, an einem System, das Leistung einfordert, aber nicht mehr erklärt, wozu.
Letztlich sind ja alle Dinge, die wir uns als Gesellschaft gemeinsam leisten, steuerfinanziert. Wenn aber die Skepsis in Bezug auf das, was die Regierung macht, wächst, wenn für eine wachsende Zahl Menschen die Frage im Raum steht, ob das, was die Regierung macht, überhaupt auf ein funktionierendes Gemeinwesen einzahlt — und wenn die Maßnahmen der Regierung in den Augen vieler Menschen dergestalt wirken, dass ehemals starke Branchen unter Hochdruck geraten — und man das sehenden Auges in Kauf nimmt — und wenn diese Regierung gleichzeitig neue staatliche Maßnahmen plant, die eher kosten, als einen Rahmen für die Generierung steuerträchtiger Innovationen zu bilden — nun, dann verlieren nicht nur die Menschen den Glauben, sondern oft genug wartet dann auch der Pleitegeier am Ende des Tunnels.
Führung muss immer wieder Bedeutung vermitteln: Wozu gibt es diese Aufgabe? Ohne einen Sinn führt jede (zusätzliche) Aufgabe schnell zu Erschöpfung. Erlernte Hilflosigkeit entsteht, wenn Initiative ins Leere läuft. Führungskräfte sollten deshalb systematisch kleine Signale der Wirkung zurückmelden: „Was du getan hast, hat etwas verändert.“ oder „Deine Idee ist interessant, und wir überlegen, wie wir sie umsetzen können.“ oder „Das war nicht umsonst.“ Wirkung ist kein Zufallsprodukt. Sie entsteht durch Rückkopplung.
In Zeiten von Unsicherheit hilft keine Schein-Sicherheit — und schon gar keine Belehrung. Was hilft, sind ehrliche Räume: Teamsitzungen, in denen alles gesagt werden darf. Die größte Stärke von Führung ist nicht etwa, immer die richtige Antwort parat zu haben, sondern ehrliche Präsenz: „Wir wissen gerade nicht genau, wie es weitergeht – aber wir gehen da gemeinsam durch.“
Menschen spüren, wenn „oben“ niemand mehr so richtig am Steuer ist. Dann braucht es Führungskräfte, die diesen Eindruck benennen und nicht verharmlosen, sondern nach unten übersetzen: „Ich sehe, dass wir gerade wenig Rückenwind bekommen. Aber ich will mit euch gemeinsam versuchen, den Kurs zu halten.“ Wahrhaftigkeit kann fehlende Sicherheit nicht ersetzen, aber sie schafft Bindung.
Wenn Menschen ablehnend, sarkastisch oder gar zynisch reagieren, ist das oft ein Zeichen für enttäuschte Verbundenheit. Solche Reaktionen brauchen keine Sanktion — sondern eine Einladung:
„Ich merke, dass Du skeptisch bist. Was steckt dahinter?“ Menschen, die sich wehren, haben noch nicht aufgegeben. Interesse zu zeigen, ist kein „Extra“. Es ist genau das, was Bindung schafft, wenn Systeme kalt und anonym geworden sind.
Das wohl Wichtigste: Menschen brauchen ein Bild vom Morgen.
Nicht im Sinne von Plakaten an der Wand — sondern als glaubhafte, spürbare Vorstellung, dass es besser werden kann.
Führung heißt: den Weg dahin nicht nur sehen, sondern erzählen können. Wer kein Morgen sieht, bleibt im Heute stecken — oder zieht sich ins Gestern zurück.
Sonst kommt es zu einer weiteren Eskalationsstufe, die gefährlich ist, nämlich zu der eingangs bereits angesprochenen „paradoxen Rachemotivation“.
Erst war ich vielleicht skeptisch (Stufe 1), dann habe ich etwas abgelehnt (Stufe 2). Die weiteren Entwicklungen haben meine Ablehnung nicht verringert, sondern verstärkt. Irgendwann habe ich begonnen, das Gegenteil dessen zu machen, was „von oben“ als „vernünftig“ bezeichnet wurde, und zwar insbesondere dann, wenn ich mich belehrt gefühlt habe (Reaktanz; Stufe 3). Die Ablehnung ist nun selbstverständlich, aber wenn ich das Gefühl habe, dass auch meine Ablehnung und selbst meine „gegenteiligen“ Handlungen nichts bewirken, dann resigniere ich vielleicht und ziehe mich zurück (Stufe 4). Nach dieser Stufe erscheint vieles gleich — die eigenen Handlungen machen in den eigenen Augen keinen Unterschied mehr, und es droht ohnehin „alles“ den sprichwörtlichen „Bach“ hinunterzugehen. Wenn nun ohnehin alles „egal“ zu sein scheint, werden viele Menschen auf eine paradoxe Weise aktiv — sie handeln dann aus einer Art Rachemotiv heraus (Stufe 5): Wenn sowieso alles den Bach runtergeht, dann ist es egal, dann wähle ich erst recht jemanden, der das Gegenteil will, Hauptsache, „die da oben“, die nicht mehr zuhören und die mich nicht mehr vertreten, obwohl sie es versprochen haben, kommen weg. Koste es, was es wolle. Es geht ja ohnehin alles kaputt — wenn die Jetzigen so weitermachen, geht alles kaputt, und wenn die anderen kommen, wird es vielleicht besser, aber wenn nicht, dann geht eben alles kaputt, es macht ja keinen Unterschied. Hauptsache, diese verflixten GesinnungstäterInnen, LügnerInnen und WahlversprechenbrecherInnen verschwinden endlich.
Kann man Lust am Risiko des Zusammenbruchs empfinden?
Wahrscheinlich ja, und wahrscheinlich insbesondere dann, wenn man sich jahrelang unverstanden gefühlt hat und aus einer Enttäuschung eine Ent-Täuschung geworden ist, man also bspw. meint, sich für eine Täuschung, der man aufgesessen ist, rächen zu müssen.
Paradox? Klar.
Unlogisch? Vielleicht.
Aber jedenfalls: psycho-logisch.
Politische Kräfte, die das ignorieren, tun dies auf eigenes Risiko. So will ich bspw. vermuten, dass die SPD, wenn sie in den kommenden Jahren in Sachsen aus den Wahlergebnissen verschwindet, auch nicht mehr wiederkommen wird.
Jörg Heidig
PS: Nicht jede Leserin und nicht jeder Leser wird die hier dargestellte Argumentation nachvollziehen können. Es mag bspw. einen gewissen Unterschied zwischen „verständlich“ (nachvollziehbar) und „verstehbar“ (mit einem gewissen Aufwand und unter bestimmten Umständen oder Vorzeichen zumindest ansatzweise plausibel) geben. Der Text mag in gewisser Weise „spezifisch ostdeutsche Linien“ nachzeichnen, die nicht aus jeder Perspektive nachvollziehbar erscheinen mögen — was nicht heißt, dass es sie nicht gibt und dass man sich nicht damit zu beschäftigen bräuchte. Was ich hier beschreibe, ist keineswegs eine „gesamtdeutsche Realität“, aber es ist eine, so will ich meinen, wichtige Facette der Realität — und in Besonderen eine, die einen Blick auf das ermöglicht, was kommen könnte, wenn sich wachsende Teile der Wählerschaft weiterhin wenig oder nicht vertreten fühlen.
Anmerkung: Das Beitragsbild wurde mit Hilfe künstlicher Intelligenz erstellt.