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Unsere arrogante Mischung aus Pazifismus und politischer Korrektheit

Einen Krieg wie den in der Ukraine hätte ich in Europa nicht mehr für möglich gehalten. Nicht nach Bosnien. Noch am Tag vor dem Angriff habe ich gesagt: "Das tun sie nicht, sie greifen nicht an."


Und dann das: Wieder gehen Slawen auf Slawen los, wieder geht es extrem brutal zu. Und wieder geschieht das mit einer Begründung, die auf zusammengebastelten, mittelalterlich anmutenden Mythen beruht.


Wie damals in Jugoslawien. Da gab es vor 600 Jahren mal eine Schlacht zwischen Türken und Serben, die zum tragenden Teil eines Nationalmythos' hochstilisiert wurde, der am Ende zu kollektivem Größenwahn und einer Reihe von extrem blutigen und brutalen Kriegen auf dem Balkan geführt hat. Wer erinnert sich heute noch an Vukovar? An Sarajevo? An Srebrenica? Das ist alles nicht lange her.


Damals stand der Westen daneben, hat Friedenspläne geschmiedet, Soldaten ohne robustes Mandat entsandt, Politiker haben die Hände gerungen und so weiter. Und jetzt?


Das gleiche Muster. Ein mittelalterlicher Mythos über die Einigkeit von Russen und Ukrainern. Ein Despot, der meint, er könne einem anderen Land seinen Willen aufzwingen, es auf ewig zum Vorhof Russlands erklären. "Wer auf meinem Vorhof kehrt, bestimme ich", lautet die Botschaft. Er schickt zehntausende Soldaten, die sich an der Kampfkraft ihrer ukrainischen Gegner die Zähne (und viel öfter als erwartet: auch das Leben) ausbeißen.


Und der Westen? Steht daneben und tut sich schwer. Es stimmt nicht, dass (wie seinerzeit) fast gar nichts getan wird. Seinerzeit haben die Angegriffenen in Bosnien kaum Hilfe gehabt; die Ukraine erhält immerhin signifikante Hilfe von einigen Ländern. Aber es sind eben auch keine Muslime, könnte man im historischen Vergleich feststellen, was die europäische Rolle im Bosnienkrieg noch viel beschämender aussehen lässt.


Wie viele Bücher sind über Bosnien geschrieben worden! Wie sicher war man sich, dass das nie wieder stattfinden sollte! "Sarajevo und danach", hat ein Buch geheißen. "Die Ukraine und danach" oder "Butscha und danach" werden kluge Artikel in Tageszeitungen heißen.


Aber machen wir Deutschen diesmal irgendwas anders? Der Bundeskanzler starrt stoisch vor sich hin, wenn es um Butscha geht - oder sagt nichts, wenn der ukrainische Präsident eine Rede vor dem Bundestag gehalten hat.


Gleichzeitig werden russische Kulturschaffende (der Dirigent in München oder neuerdings die Sängerin Anna Netrebko) aufgefordert, brav die Sätze aufzusagen, die man von ihnen erwartet - tun sie es nicht, fliegen sie raus.


Sie sind nicht Putin, sie sind nicht die russische Armee! Aber sie müssen herhalten.


Nach dem Motto: Wir wollen zwar unsere Heizung nicht herunterdrehen und überweisen als EU jeden Tag ein paar Hundert Millionen an Russland, aber wenn hier ein russischer Künstler kommt, dann soll er gefälligst aufsagen, was wir hören wollen.


Das ist die widersprüchlichste und gleichzeitig arroganteste Form jener Mischung aus Pazifismus und politischer Korrektheit, die wir uns zugelegt haben, und in der wir uns so gern sonnen. Konsequente Wertepolitik gegenüber verwundbaren Einzelpersonen hier, verlogenes Management von Widersprüchen dort, wo zu handeln eigentlich notwendig wäre.


Die vielleicht spitzeste Variante dieser unsäglichen Mischung hat kürzlich Max Uthoff abgeliefert: Er habe jedes Mitgefühl für das ukrainische Volk in seiner Lage, lautete sinngemäß einer der ersten Sätze. Und danach nur noch in Pazifismus gehüllter Zynismus: das sei alles eine Ausgeburt toxischer Maskulinität (Putin wie Selenskij)...


Das ist zugegeben wortgewaltige - und weil TV: auch unterhaltsam daherkommende - Arroganz gepaart mit scheinbar menschlichen Wünschen, ohne aber irgendeine Antwort zu liefern, was denn nun zu tun wäre, wenn jemand vor einem steht, dessen Auftrag es ist, einen zu erschießen.


Konsequent weitergedacht müsste sich der Verfasser solcher Worte einfach erschießen lassen, wenn es ihm nicht gelungen ist, zeitig genug und weit genug wegzurennen.


Pazifistin oder Pazifist kann man, so hat es Bärbel Bohley sinngemäß gesagt, nur für sich selbst sein. Sie ist 1996, wie ich selbst auch, nach Bosnien gegangen, um zu helfen, das Land wiederaufzubauen. Diese "schrecklichen Erfahrungen in Bosnien" haben sie gelehrt, dass es zynisch sei, "wenn Menschen in äußerster Not 'Sonnenblumen' vorgehalten werden".

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