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Mein stiller Wutanfall

Den folgenden Text habe ich Anfang Januar geschrieben, noch ohne die bestürzenden Eindrücke aus der Ukraine. In dem Text geht um etwas, das man in der Forschung "moral injury" (sinngemäß etwa: moralische Traumatisierung) nennt und das Soldaten und anderen Einsatzkräften passieren kann. Wenn man möchte, kann man die aktuellen Handlungsmuster der deutschen Regierung durch die Brille dieses Textes betrachten.


Wer genau, denkt Ihr denn, sind die Taliban? Eine Truppe netter, irgendwie geläuterter Jungs, die nur auf die Möglichkeit warten, sich für ihre Taten zu entschuldigen?


Wir handeln viel schneller bzw. verändern sich die Dinge durch die Folgen unserer Handlungen viel schneller, als wir hinterherkämen, die Folgen in den Griff zu bekommen. Wir haben keine Zeit, weil die Herausforderungen so schnell wachsen und sich verändern, dass wir atemlos dabei zuschauen und gleichzeitig extrem schnell handeln — gefangen in einer actionfilmartigen Zuspitzung der Lage. Unsere Soldaten waren 20 Jahre in Afghanistan. Dann dieser extrem schnelle Abzug.


Als die ehemalige Verteidigungsministerin im vergangenen Sommer sichtlich überfordert vor den Mikrofonen stand, um Worte rang und angesichts des Rückzugsdesasters keine passenden fand, war ich fassungslos und... wütend. Aber für einen echten Wutanfall war meine Reaktion zu langsam. Wie eine Explosion, die so langsam ist, dass man sie nur als eine Art fernen Grollens wahrnimmt. 


Deutschland werde am Hindukusch verteidigt, hat einer ihrer Vorgänger gesagt. Die Realität braucht bessere Erklärungen als irgendwelche Metaphern vom Hindukusch. Das ist, was der durchschnittliche Deutsche von Afghanistan gehört hat: Berge, Islamisten, Kriegseinsatz. Und "Hindukusch" klingt irgendwie bild-schwer, düster, archaisch. Deutschland dort verteidigen? Warum genau waren wir dort? 


Und 20 Jahre später: Warum genau haben wir das Land so plötzlich verlassen, ohne die Unsrigen (die für uns gearbeitet haben) und jene, denen wir Hoffnung gemacht haben (größere Teile der jüngeren Generation und ganze Berufsgruppen, die es ohne uns in Afghanistan nicht gäbe), mitzunehmen? Und was bitte soll das hilflose Gestammel vor den Kameras? Katastrophen kann man nicht schönreden; mindestens das Zurücklassen derer, die uns vertraut haben, war eben das: eine Katastrophe. Aber eben nicht für "uns", sondern für "die". Nur dass diejenigen von uns, die tatsächlich Beziehungen aufgebaut hatten, plötzlich jeglicher Erklärung beraubt waren - für einen selbst ist das das Eine, wenn man es jemandem, den oder die man kennt, erklären muss, wird es etwas völlig anderes.


Das Desaster in Afghanistan hat mich an meine eigene Hilflosigkeit erinnert. Ich war von 1996 bis 1999 im Auslandseinsatz in Bosnien-Herzegowina, und ich war immer wieder erstaunt, wie wirkungsarm die eigene Arbeit bleibt, selbst wenn man die Sprache fließend spricht, die Kultur versteht, sich Mühe gibt, einen Unterschied zu machen, usw. Meine moralische Verpflichtung, trotzdem etwas zu erreichen, war hoch. 


Als ich mit einer Führungsaufgabe betraut wurde, neigte sich ein wenig freundlicher Kollege über den Tisch und sagte: "Die Gewässer hier sind kalt und tief." Daraufhin verließ er grinsend mein Büro.


Am Ende kann man von Auslandseinsätzen, ihrem Zweck und ihrer Wirkung halten, was man will: Wenn einem - noch dazu im Nachhinein - die Legitimation, die Begründung, die Rechtfertigung für den Einsatz entzogen wird, ist das grausam. Plötzlich wird alles in Frage gestellt, erscheint alles im Nachhinein sinnlos. Dabei hatte ich im vergangenen August ja nur "Stellvertreteremotionen". Mein Einsatz ist lange her, und ich war "nur" in Bosnien. Kein Vergleich mit Afghanistan.


Es ist kein Wunder, wenn immer weniger Leute an Deutschland und seine Demokratie glauben, wenn wir so mit unseren Einsatzkräften umgehen.


Das Problem: Die betreffenden Politikerinnen wissen davon nichts. Sie können sich das nicht denken, sie waren ja nie selbst in so einem Land im Einsatz.


Man stelle sich einmal die durchschnittliche deutsche Politikerin vor. Man war vielleicht einmal jung und wollte sich engagieren und trat in eine Partei ein. Dann sah man, wie es wirklich in einer Partei läuft - und ging schnell wieder oder blieb. Vielleicht weil man dennoch gestalten wollte, vielleicht weil die Sache Spaß macht, vielleicht auch weil Macht etwas ist, dem man sich nur schwer entziehen kann. Man lernte auch, die richtigen Dinge zu tun, um weiterzukommen. In einer Partei weiterzukommen, hat nicht nur mit Sachverstand zu tun. 


Nun kommt jemand, die oder der vielleicht Sachverstand hat UND weitergekommen ist, in eine zugespitzte Lage und muss sich beweisen. An solchen Bewährungsproben sieht man den wahren Menschen: Während die einen daran wachsen, klappern andere nervös herum. Die Gründe für die Entscheidung, nach einem politischen Mandat zu streben, hat mit den Situationen, denen man später ausgesetzt sein mag, nichts zu tun. Das "Handling" schwieriger Situationen ist ein Lernprozess, dem man nicht einfach so gewachsen ist, sondern der einem viel abfordert. 


Ich erinnere mich noch an mein allererstes Gespräch mit einem waschechten Islamisten. Waschecht deshalb, weil er nicht nur so aussah und redete, sondern weil er auch gekämpft hatte. Es gab in Bosnien eine vierstellige Zahl islamistischer Kämpfer, die vorher in Afghanistan und anderen Ländern gekämpft hatten und dementsprechend kampferprobt die muslimisch dominierte "Armija BIH" in Bosnien unterstützten. Diese Leute haben, wie der Krieg insgesamt, bei einigen bosnischen Muslimen zu einer Radikalisierung beigetragen. Mein Gegenüber war so ein Bosnier: jung, begeistert, im Krieg radikalisiert. Angesichts der ungleichen Kraftverteilung zu Beginn des Krieges und der unsäglich grausamen Geschehnisse war das vielleicht auch kein Wunder. Es war extrem schwierig zu reden. Er konnte und wollte mir nichts, weil ich seiner Schwester einmal derart geholfen hatte, dass er mir stellvertretend dankbar sein musste. Zudem begegneten wir uns zufällig im Haus seiner Schwester. Es war kein gutes Gespräch, im Gegenteil: Der allzu erleuchteten Rhetorik folgten zwar keine Taten, aber es gab auch keinerlei gemeinsame Gesprächsgrundlage. Dialog war unmöglich. Es blieb eine harte Diskussion voller Beschwörungen, dass es so und nicht anders sei. Bekanntermaßen hat sich die radikalislamistische Strömung unter den bosnischen Muslimen nicht durchgesetzt, aber die Erfahrung bleibt in meiner Erinnerung: Der Dialog wird verweigert, es gibt keine gemeinsame Verständigungs- oder Handlungsgrundlage. Also was bitte soll man in so einem Fall mit Worten ausrichten?


Das Verrückte an so einem Auslandseinsatz ist: Man denkt zunächst, man tut etwas Gutes. Man braucht irgendeine Erklärung für den Einsatz. In meinem Fall war die Sache ja freiwillig, ich war in Zivil dort, und ich war wie gesagt nur in Bosnien. Für mich war es der Wunsch zu helfen und zu verstehen, warum sich Menschen so etwas antun. Zumal ich die Menschen und ihre Kultur mochte. Die in den Auslandseinsatz entsendeten Soldaten hatten möglicherweise, aber nicht zwingend, irgendeine Einlassung zum Einsatz. Der gesündeste Fall ist wahrscheinlich, wenn sich die Soldatin oder der Soldat sagt: "Das ist mein Job, und ich habe mich für diesen Job entschieden, also gehört das dazu." Aber was ist mit all jenen, die sich mehr dabei gedacht haben?


Das ist es ja: Wenn ich etwas tun muss, es mir aber nicht ausgesucht habe, und wenn ich nicht zu der "Es ist nur mein Job"-Erklärung neige, dann muss ich den Auslandseinsatz legitimieren, vor mir selbst - und schwieriger noch: vor meinen Lieben - rechtfertigen. Und dann kommen die Sprüche. Hoffentlich nicht so dumme, wie Deutschland am Hindukusch zu verteidigen. Aber eben zu helfen, einen Unterschied zu machen usw. Und im Einsatz findet sich dann schon was, auch wenn ggf. Zweifel bleiben.


Aber was, wenn dann plötzlich die gesellschaftliche Legitimation entzogen wird? Geradezu einfach war es ja nie, Zweifel gab es in den Debatten dazu ja immer. Aber man stelle sich vor, man sieht heftiges Leid bei Kindern und kann nicht helfen, oder man ist über Jahre einer extrem dummen Vorgesetzten ausgesetzt... Man stelle sich die Folgen, die Wirkungen dessen vor. Die gleiche Wirkung hat ein tatsächlicher oder empfundener Entzug des Rückhalts für den Einsatz. 


Und nein, das lässt sich nicht mit Geld oder sonst irgendeiner Kompensation aufwiegen. Und nachdem es passiert ist, helfen Worte auch nichts mehr, im Gegenteil. Es geht hier um Vertrauen. Und wenn es schon riskant ist und nicht ganz direkt verständlich ("Was genau hat der Hindukusch mit Deutschland zu tun?", werden sich manche gefragt haben.), dann umso schlimmer. Dann hat die Politik einen größeren Teil der ehemaligen und gegenwärtigen Einsatzkräfte (Soldaten primär, aber andere Einsatzkräfte wie bspw. Polizisten auch sekundär, weil nicht wenige so etwas sehr genau registrieren) vor den Kopf gestoßen und "moralisch verletzt", ohne das überhaupt zu sehen oder zu verstehen, geschweige denn die Verantwortung dafür zu übernehmen.

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