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Die gefühlte Lage gewinnt

Wenn wir so weitermachen, scheint die Spaltung unausweichlich. 


Schlimmer noch: wenn man sich derzeit in Sachsen umschaut, könnte man zu dem Schluss kommen, dass die Spaltung nicht nur unausweichlich scheint, sondern ist


Sachsen ist kein Einzelfall. Wenn in Sachsen etwas umkippt, ist das kein globales Problem. Aber eine Dynamik wie in Sachsen findet auch in viel größeren Dimensionen und auf ganz anderen Ebenen statt, zum Beispiel in den Vereinigten Staaten. 


Falls es "The Donald" noch einmal schaffen sollte oder es ihm jemand seines Geistes nachtut, besteht eine gewisse, nach meinem Dafürhalten nicht zu verachtende Wahrscheinlichkeit, dass man nicht bis nach der dann nächsten Wahl wartet, bis man zum Sturm auf das Kapitol bläst. 


Wenn das dann misslingen sollte, wird man es (wie "The Donald" Anfang 2021) nicht gewesen sein wollen. Aber angenommen, es wäre erfolgreich - dann wird man es gewesen sein wollen, aber auch dann wird man sich im Nachhinein zum Opfer der Umstände machen. (Ein Schelm nur, wer jetzt an den Berliner Reichstagsbrand im Jahr 1933 denkt.)


Wer meint, dass das unwahrscheinlich sei, höre zu, was zum Beispiel der Kongressabgeordnete Mark Green aus Tennessee so sagt, wenn der Tag lang ist.


Das Muster, das dahinter liegt, ist immer ähnlich: Man provoziert etwas, man behauptet, die Sache eskaliert, es spaltet sich, und hinterher geriert man sich als Opfer oder als Helfer der Opfer. Man schafft quasi selbst die Umstände, mit denen man die eigenen Handlungen legitimiert.


Ein einfaches Beispiel: Im Internet taucht die Meldung auf, dass ein Lebensmittelhersteller seit Neuestem halal-zertifiziert sei. Die Meldung taucht aber nicht etwa auf der Website des Unternehmens auf, sondern in einer emotional geschriebenen "Gegenreaktion" einer bekannten Persönlichkeit, zu deren Positionen es gehört, gegen die Einwanderung von Menschen muslimischen Glaubens zu sein. Im Echoraum dieser Person in speziell einem sozialen Medium eskaliert es entsprechend. Die Likes und Kommentare gehen durch die Decke. Man ist sich einig, fühlt sich bestätigt. 


Tage später steht auf der gefühlten Seite 17 einer bekannten Tageszeitung mit schrumpfender Reichweite, dass das betreffende Unternehmen über gar keine derartige Zertifizierung verfüge, noch dass es so etwas anstrebe. 


Die Reaktion bei denen, die das überhaupt zur Kenntnis genommen haben: "Wie war das noch? Ach so, stimmt... krass!" 


Bei allen anderen werden die Dynamik der Eskalation und die spätere Richtigstellung gar nicht miteinander assoziiert - geschweige denn, dass realisiert würde, dass jemand diese Eskalation vermittels einer einfachen, ebenso unbegründeten wie strategisch erfundenen Behauptung hervorgerufen hat, um eine bestimmte Wirkung zu erreichen. 


Wir reagieren quasi auf Fantasy... oder Propaganda.


Soweit sind wir: Es wird einfach etwas behauptet - und die Reaktionen erfolgen, wie sie eben erfolgen, aber ob das Ganze überhaupt "wahr" oder "prüfbar" ist, spielt keine oder höchstens eine periphere Rolle mit deutlich geringerer Wirkung. 


Die gewissermaßen "andere Seite" hält sich nach wie vor an die überkommenen Regeln, zum Beispiel dass Journalisten eine Ausbildung brauchen, dass die Fakten hinter Behauptungen recherchiert werden sollten, dass man sich an bestimmte Prozeduren zu halten hat usw. Oder man tut zumindest noch so.


Die Prozeduren werden weitergeführt - oft genug aber nicht mehr hinreichend, weil man kaum Zeit hat oder weil man selbst mittlerweile stark genug auf die die sozialmediale Effekthascherei konditioniert ist. Hier ergibt sich ein ebenso ungewollter wie paradoxer Effekt: Indem die Prozeduren weitergeführt werden, werden sie weiter ausgehöhlt. Das - mitunter "halbe" - Aufrechterhalten der Prozeduren wird zum Teil des Problems. 


Man bemüht sich, alles richtig zu machen. Man recherchiert, belegt, argumentiert, begründet. Aber man kann kaum mehr etwas bewirken, weil das, worum es geht, längst zu einer Glaubensfrage geworden ist: ich glaube an die herkömmlichen Prozeduren - oder nicht. Wenn ich nicht daran glaube, bin ich empfänglich für Behauptungen, die nicht belegt werden müssen. 


Noch einmal zu dem Beispiel: Da wurde ein Unternehmen angeblich halal-zertifiziert. "Angeblich" steht aber nicht dabei. Es steht nur da, dass zertifiziert wurde. Und da stehen die vielen direkten Reaktionen darauf.


Wenn ich noch an die Prozeduren glaube und die Quelle für glaubwürdig halte, falle ich darauf herein. Wenn ich nicht mehr an die Prozeduren glaube und die Quelle für glaubwürdig halte, gibt es gar kein Hereinfallen mehr, dann halte ich die nicht belegte Behauptung an und für sich schon für einen Beleg, dass das System marode ist. 


Hinzu kommt: Wo eine Zeitung quasi eine Prozedur hat (Qualifikation, Recherchen usw.), kennen soziale Medien solche Filter nicht. Jede und jeder kann schreiben oder sagen, was er oder sie möchte. Und selbstverständlich kann auch jeder und jede glauben, was sie oder er will. Und dann ist es wie im Rhetorik-Unterricht oder im Marketing-Seminar: Dort bringt man den Leuten bei, dass die gefühlte Lage immer wirksamer ist als die Fakten-Lage. Und dass die gefühlte Lage gewinnt. 


Strategische Kommunikation ist so alt wie die Menschheit. Und es wäre auch nicht das erste Mal, dass die Grundlagen des Miteinanders ins Wanken geraten. So etwas wie eine Demokratie ist immer eine Zustimmungssache. Machen genug Leute mit und glauben daran, hält das Miteinander Stress aus. Werden es weniger und kommen dann noch Migranten, eine Pandemie oder heftig steigende Preise hinzu, wird es spannend.


Wo befinden wir uns jetzt?


Mein geschätzter Kollege Christoph Meißelbach hat die Entwicklung unseres Verhältnisses zur Freiheit einmal als umgekehrte U-Funktion beschrieben. Man stelle sich auf der linken Seite der Parabel ein denkbar totalitäres System vor, Nordkorea zum Beispiel. Dort kann man sich nicht nonkonform verhalten, ohne dass die Partei an der Tür klingelt. Im Vergleich dazu war die ehemalige DDR zwar "auch sportlich", aber zumindest zum Ende hin eher milde. Die Reißzähne waren langsam, aber sicher faulig geworden. Unabhängig vom "Totalitätsgrad" des jeweiligen Systems gilt: unter den Umständen eines solchen Systems ist "mehr Freiheit" immer auch "besser". 


Was aber passiert, wenn wir beispielsweise das Recht, politische oder behördliche Entscheidungen zu hinterfragen, nicht mehr nur nutzen, um uns zu verteidigen, sondern gleichsam strategisch nutzen, um andere Ordnungsvorstellungen populärer zu machen? 


Das ist zugegebenermaßen eine steile These: Wir hinterfragen, weil wir es können, weil wir Wirkung erzielen möchten, und zwar nicht mehr mit dem Ziel einer Hinterfragung ggf. ungerechter oder unrechtmäßiger Vorgänge, sondern zur Erweiterung der eigenen Komfortzonen. Dann bedeutet mehr Freiheit nicht mehr unbedingt, dass es auch besser wird, sondern dann geraten die Dinge durcheinander. 


Einige Beispiele von "eher harmlos" bis "die Grundlage demokratischer Gesellschaften infrage stellend":


Ein Student stellt eine Note infrage und macht von seinem Recht auf Klausureinsicht Gebrauch. Das entsprechende Gespräch führt zu keinen neuen Erkenntnissen, und es bleibt bei der Note. Auf die Frage hin, warum der Student die Klausureinsicht verlangt habe, antwortet er: "Am Gymnasium hat das immer geklappt." Solche Vorgänge führen in manchen Studiengängen mittlerweile zu einer Art "prophylaktischer" Abschlussnote von 1,0 für alle.


Auf manchen Demonstrationen werden Einsatzkräfte angegriffen. Als Legitimation für die eigene Gewalt dient die generelle Unterstellung "systematischer" Polizeigewalt. Wird jemand verhaftet, kann er sich der Unterstützung ehrenamtlich arbeitender Anwälte versichern, die ihn oder sie trotz strafbarer Handlungen sofort auf den Boden der Verfassung zurückziehen und den sprichwörtlichen Spieß argumentativ herumdrehen. 


Ein früherer Präsident, der eine Wahl verloren hat, stellt die Wahl infrage. Er kann es zwar vor Gericht nicht beweisen, aber er bleibt bei seiner Behauptung und größere Teile seiner Anhänger folgen ihm dennoch.


Ein anderer Präsident greift ein Land an, dessen Existenz er leugnet. Er schwingt sich zum Beschützer einer Minderheit auf, die nicht - zumindest nicht mehrheitlich, was ja einem Referendum gleich käme - um Schutz gebeten hat. Er behauptet, das betreffende Land sei voller "Nazis", die die Existenz der Minderheit existentiell gefährden würden. Er benutzt faschistische Methoden mit der Begründung, die andere Seite sei faschistisch. 


Systeme funktionieren nur, wenn man sich an Regeln hält. Nutzt man die Regeln zur Optimierung der eigenen Komfortzonen, ist das nicht schön, aber es zerlegt nicht gleich das System - es höhlt es mit der Zeit nur aus. Nutzt man aber die Eigenheiten und Regeln des Systems, um das System selbst zu zerlegen, wird es gefährlich. 


Das ist der Punkt, an dem wir uns befinden: Das Befolgen der Regeln hilft nichts mehr, weil viele die Regeln konterkarieren, indem sie die Regeln brechen, im Nachhinein aber behaupten, sie folgten den Regeln und würden sie sogar verteidigen. 


Unsere Demokratie wird vorgeführt, und zwar immer von Neuem. Und mancher Stresstest (in Sachsen spätestens mit Corona) führt zu einer spürbaren Veränderung des Klimas. Der nächste Stresstest steht bevor: Wie viel Unterstützung für die Ukraine wird möglich sein, bis die "Kriegsmüdigkeit" der deutschen Bevölkerung spätestens durch die Preiserhöhungen so weit steigt, dass wir nach Frieden rufen, egal um welchen Preis?


Die Dynamik spitzt sich immer weiter zu: Wir sind es gewohnt, Dinge zu hinterfragen, und das ist eigentlich gut so. Aber wir haben uns auch an eine strategische Hinterfragung der Dinge gewöhnt, und zwar so sehr, dass es immer aufwendiger und unwägbarer wird, Zustimmung zu bestimmten Entscheidungen zu erzeugen. Irgendjemand ist immer dagegen. Wir werden immer abhängiger von momentan gelingender Kommunikation - mit rapide schrumpfenden Zeithorizonten. 


Das führt zu einer Echtzeitverzerrung: Während sich die Wahrnehmung der Gegenwart immer mehr beschleunigt, leben wir immer mehr in irgendwelchen idealen Vergangenheiten oder Zukünften, weil diese anders als die Realität so sein können, wie sie - je nach Wunsch - sein sollen. Soziale Medien wirken hier als Verstärker, die noch mehr Druck auf die Gegenwart erzeugen.


Freiheit ist eine Errungenschaft. Punkt. 


Aber die Freiheit gerät unter Druck, indem ihre Prozeduren strategisch angewandt werden - und zwar nicht nur zum eigenen Vorteil, sondern auch zur Infragestellung der Grundlagen der Freiheit. 


Das ist mit der Analogie von der umgekehrten U-Funktion gemeint: Es gibt den Punkt, ab dem "mehr Freiheit" nicht mehr bedeutet, dass es "besser" wird, im Gegenteil. Freiheit ohne Grundlagen, an die geglaubt wird und an deren Regeln man sich hält, führt zur Auflösung von Freiheit und zur, so scheint es zumindest momentan in Sachsen, Rückkehr mancher totgeglaubter autoritärer Monster.


Viele hinterfragen nicht nur, weil sie es für notwendig erachten, sondern weil sie es können (strategische Nutzung der Freiheit zur individuellen Komfortzonenerweiterung: man hat halt einen Anwalt, zur Not auch prophylaktisch). Manche nutzen die Freiheit strategisch aber noch auf einem anderen Level: nicht nur zur Optimierung der eigenen Komfortzonen, sondern zur Erzielung bestimmter Wirkungen (strategische Nutzung zur Erreichung politischer Ziele unter mindestens der Inkaufnahme, wenn nicht der Beabsichtigung der Erschütterung der Grundlagen der Freiheit). Und wie gesagt: Leider wirken soziale Medien hier als Verstärker.


Man kann dem etwas entgegensetzen, man kann sich weiter an die Regeln halten, aber die "Glaubensfrage" zeigt sich offener denn je. So etwas wie die Unterstützung des ukrainischen Volkes im Krieg gegen den Aggressor Russland wird zur Stimmungsfrage, und spätestens in Sachsen rufen viele nach "Frieden für Russland", was am Ende des Tages ebenso höhnisch wie undemokratisch ist. 


Diese Leute haben "konkurrierende Ordnungsvorstellungen". 


Demokratie ist sicher nicht die einzige, vielleicht aber die für das Wohlergehen des einzelnen Menschen beste Ordnungsvorstellung. Nun könnte man natürlich darüber nachdenken, ob nicht 1989 viele vom Sozialismus frustriert waren, die sozialistische Erziehung aber dennoch jene Emotionen programmiert hat, mit denen man heute auf die Widersprüche und die krisenhaften Situationen in der Demokratie reagiert.


Im Grunde blicken wir auf eine komplexe Landschaft. Wo früher "rot" und "schwarz" war, kommen heute noch "blau" und "grün" hinzu. Früher hätte ich einfach von einem neutralen Standpunkt aus argumentiert und analysiert, was geschieht, wenn sich zu viele vom Boden der Verfassung entfernen. Ich muss mir allerdings eingestehen: Viele sind schon zu weit weg, niemand wird diese Leute irgendwohin "zurückbringen". 


Es wird etwas Anderes, und wenn man nach Amerika schaut, will ich meinen: nichts Gutes. Aber nur weil man selbst in der Zukunft zu wenig von dem entdecken kann, was man gut findet, heißt das nicht, dass die Zukunft nicht trotzdem kommt. Es geht meines Erachtens darum, sich der Zukunft zu stellen. Auch und gerade weil bald eine Zeit kommt, in der die Mehrheit der Wähler über Sechzig ist. 


Was uns sicher nicht hilft, ist gegenseitige Diffamierung. Während die einen noch so "woke" Belehrungen von sich geben, machen die anderen von "alternativen Fakten" Gebrauch und scheren sich einen Dreck um das, was man bei Zeitungen für notwendig und richtig hält. Während die einen an ihren Prozeduren festhalten (und das am Ende unter Druck auch nicht mehr alle tun, aber es zumeist noch vorgeben) und sich dabei im Recht wähnen, hauen die anderen mit noch mehr Schmackes die überkommenen Annahmen kaputt.


Früher hätte ich so oder so ähnlich argumentiert: Die gegenseitige Infragestellung höhlt die gemeinsame Handlungsgrundlage aus, bringt unseren gemeinsamen "Boden der Verfassung" in Gefahr. Zwar bin ich nach wie vor der Meinung, dass dem so ist. Was heuer den Unterschied macht, ist, dass sich die faschistische Fratze hinter der strategischen Hinterfragung mittlerweile ziemlich offen zeigt. 


Darauf mit noch mehr "wokeness" zu reagieren, hilft so viel wie der Versuch, ein Feuer mit Benzin zu löschen. 


Gleichzeitig ist es Zeit einzusehen, dass die Fans konkurrierender Ordnungsvorstellungen die Demokratie ablehnen, und zwar energisch. Das bedeutet auch, dass man nicht mehr miteinander über Demokratie sprechen kann - man hört dann höchstens lautes Geheul über die Verteidigung der Demokratie, nur um später zu ahnen, dass gar nicht die Demokratie, sondern die konkurrierende Ordnungsvorstellung gemeint war, nur dass man eben strategisch anders getan hat. 


In Sachsen wiederholt sich gerade das Schicksal der Weimarer Republik - im Kleinen zwar und aussichtslos und bei Weitem nicht so brutal, aber die Emotionen und die Dynamik passen. 

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